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Landes in solchen Massen einzuführen. Die Meisten nahmen es ohne Kopfzerbrechen hin und freuten sich der Gottesgabe bis sie durch die Alltäglichkeit des Wunders dagegen abgestumpft wurden.

Allerdings gab es auch Leute, denen die Sache unangenehm vorkam: die Ackerbauer, Grundbesitzer und Händler. Das Korn war entwerthet, und da ließen sie verdrießlich sogar die angefangenen Arbeiten im Stiche. Die üppigen Getreidefelder Lydiens verwilderten. Niemand kümmerte sich mehr um ihre Pflege oder um die sorgliche Abwehr von Schäden. Mochten Vögel oder Ungeziefer die Aecker verheeren, was lag daran? Vor der äußersten Noth war dennoch Jeder geborgen, so lange des Königs Mehlkammer nicht leer wurde, und diese wurde nicht leer. Je mehr man brauchte, um so mehr Vorrath war da. So ergaben sich die Landleute, wenn auch mit einigem Zähneknirschen, in das harte Schicksal des Ueberflusses.

Auf die Lyder, die nicht vom Ackerbau, sondern von sonstigen Beschäftigungen lebten, wirkte der neue Zustand eigenthümlich entnervend, wie ein schwüler Wind. Alle Regsamkeit erschlaffte. Die Männer wurden faul und dabei unruhig. Sie hatten weniger Sorgen, als ihnen frommte, und gaben sich daher allerlei müßigem und gefährlichem Zeitvertreibe hin. Sie wurden händelsüchtig und liederlich, weil ihre von der Arbeit nicht erschöpfte Kraft nach Ausflüssen drängte. Sie wendeten sich auch der Politik zu, in einer ungebärdigen, aufrührerischen Art. Sie fingen an, wider Kroisos zu murren, und es bildete sich eine förmliche Umsturzpartei, deren Rädelsführer dem Kreise der verarmenden kleinen Gutsbesitzer angehörten.

„Das sind Deine Diakrier, Kroisos“, sagte Solon, als diese Ereignisse bei Hofe gemeldet wurden. „Ich kenne

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/22&oldid=- (Version vom 1.8.2018)