tödte mir den Eukosmos! … Du schwankst noch! Wohl, ich will Dir einen Vorschlag machen. Es lebt ein Mann, welcher von allen Griechen der Weiseste ist. Dieser möge unseren Streit entscheiden!“
„Thales von Miletos?“[1] sagte Aesop.
„Thales!“ bestätigte Solon. „Gib ihm die ganze Sache bekannt. Unser Freund Aesop wird es mit seiner schönen Klarheit aufschreiben. Erzähle ihm nichts von mir. Er soll sein freies Urtheil aussprechen. Was er sagt, das will auch ich als das Richtige anerkennen.“
„Gut!“ rief Kroisos aus, der froh war, einem unmittelbaren Entschlusse ausweichen zu können. „Thales möge uns künden, was in diesem unerhörten Falle die Pflicht ist.“
Am andern Morgen eilte die königliche Botschaft nach Miletos. Bald kam die Antwort des Weisen. Sie lautete: „König! Du mußt mir eine Zeit des Bedenkens gewähren. Ich kann Dir in einer so schweren Gewissensfrage nicht allsogleich mein letztes Wort angeben.“
Monde kamen und gingen. Von Thales erschien aber keinerlei Nachricht. Kroisos schickte einen andern Boten hinüber nach Milet. Der Bote kehrte mit einer wunderlichen Meldung zurück. Thales sei verreist, und man wisse nicht, wohin. Kroisos schüttelte unmuthig das Haupt. Doch Solon sagte:
„Lass’ nur! Thales weiß immer, was er thut. Du wirst sein Urtheil hören. Wohlschmeckend wird es sein, gleichwie eine reife Frucht.“
In Sardes aber entwickelten sich die Dinge. Eukosmos war ein lieber Genosse des Königs und seiner Freunde geworden. Immer von neuem erfreute sie die Anmuth seines Geistes, die Kühnheit und männliche Heiterkeit seines
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)