durch, der sich entschließt, auf eigene Faust nachzudenken.… Ich versuchte zunächst, mich selbständig zu heilen. Ging nach der Anatomie und kaufte mir ein schon präparirtes Skelett. Die Gewohnheit sollte mich gegen das Grauen abstumpfen. Oft und oft stand ich nun vor meinem großen Wandspiegel neben meinem beinernen Unbekannten und verglich und verglich. Wurde nicht müde an diesem poor Yorick aus der Anatomie mich selber zu studiren. Fortwährend sah ich meiner Zukunft in die leeren Augenhöhlen. Dabei hielt ich mich für einen Unglücklichen, den die Vorsehung schwerer belastet hatte, als jeden anderen. Täglich lernte ich mich genauer kennen und täglich wuchs mein Grauen vor mir selbst. Rastlos untersuchte und betastete ich mich und wußte endlich ganz genau, wie mein Skelett aussieht. Es ist ein wohlgebildetes männliches Gerüst, über Mittelgröße, vollständig normal, am linken Schlüsselbein befindet sich ein Bruch, den ich mir bei einem Sturze vom Pferde zugezogen und am rechten Oberarm ein Defekt, herrührend von jenem Hiebe.“
„Es läuft mir über den Rücken. Sie scherzen wie ein Todtengräber, Verehrtester!“
„Hören Sie mich zu Ende! … Ich hatte geglaubt, die Gewohnheit werde mich nach und nach abstumpfen. Gefehlt! Da erfaßte mich die hülfloseste Wuth, und in einer Nacht zertrümmerte ich meinen Yorick mit schweren Säbelhieben… Dann wollte ich mir selbst entrinnen, verließ meine bisherige Umgebung, fuhr hinaus in die Welt. Zu spät. Der eine eiserne unerbittliche Gedanke war nicht mehr zu bannen. Er war bei mir, wenn ich im Zelte eines Beduinen lag und athemlos aufgeregt, mit stockendem Herzschlage in die nächtliche Wüste hinauslauschte nach dem Gebrüll ferner Löwen. Er war bei mir
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/176&oldid=- (Version vom 1.8.2018)