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jungfräulich geblieben. So war es. Eines Abends saß ich gleich meinen Kolleginnen kaum bekleidet, dicht an der Holzwand. Hatte ich ein verdächtiges Geräusch dahinter gehört oder war mir nur eines der zahlreichen Astlöcher aufgefallen, ich steckte gedankenlos den Finger durch die runde Oeffnung und – stieß in das Auge eines Menschen. Ein halbunterdrückter Ausruf. Ich selber war zu Tod erschrocken, die anderen hatten nichts gemerkt. Ich brachte kein Wort hervor, warf aber meinen langen Mantel über und eilte hinaus, um mir Gewißheit zu verschaffen, ob man uns wirklich belauschte… Ja. Und nicht etwa nur ein einziger verwilderter Bengel, nein, mehrere Herren. An unsere Garderobe grenzte ein Holzverschlag, in dem sie sich aufgehalten hatten. Ich blieb einen Augenblick im tiefsten Schatten des Hofes hinter einem Wagen stehen, bis ich in der Dunkelheit sah. Da kamen sie auch schon heraus. Ich zählte vier, fünf, ein halbes Dutzend. Einer davon ging unsicher und drückte sich das Taschentuch ans Auge. Offenbar der, den ich getroffen. Wer es war, konnte ich in der Finsterniß nicht erkennen. Auch die andern Gestalten waren nicht zu unterscheiden. Da, der Letzte, der heraustritt und die Thür leise hinter sich zuzieht, den kenne ich an der runden Figur und dem großen Kopf. Es ist Lemke. Hat er denn nichts bemerkt? Ich eile geräuschlos auf ihn zu. „Herr Direktor!“ flüstere ich hastig, „man sieht in unsere Garderobe hinein!“ Er kichert halblaut; „Machen Sie sich nichts draus, Ihnen gilt’s ja doch nicht!“ Er wußte also davon. Ich war entsetzt, empört. Vielleicht errieth er meine Gedanken; denn er faßte nun meine Hand und sagte leise, drohend: „Es soll Ihnen nicht einfallen, Lärm zu machen oder es den Andern zu erzählen – sonst sind Sie augenblicklich entlassen.“

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/164&oldid=- (Version vom 1.8.2018)