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Blicken einer Menge preisgegeben, und wenn sie groß sein will, so genügt es nicht, daß sie eine Seele habe, sie muß diese auch entblößen. Wie weit war ich davon! Meine arme, verschüchterte Seele zog sich scheu zurück, und in einer Welt, wo nur das Geäußerte gilt, lebte ich träumerisch nach innen… Bis endlich jener Vorfall eintrat, von dem die Wendung herdatirt…“

„Eine Liebschaft?“ warf der Arzt ein.

Sie lachte kurz und bitter. „Wenn es das gewesen wäre! Ich säße vielleicht heute als Souffleuse in irgend einem Nest. Nein, etwas Anderes

Ich zog damals mit der Gesellschaft des Herrn Direktors Lemke. Dieser Lemke war ein gemüthlicher Schuft. Daß er seine Leute übervortheilte und ihnen soviel Arbeit erpreßte, als er nur konnte, davon will ich nicht reden. Die eigentliche Lumperei bestand in seinen Nebengeschäften, von denen Sie eines kennen lernen sollen. Dabei hatte er ein rosiges, lächelndes Gesicht, von blonden Locken umwallt, der echte Künstlerkopf.

Wir waren in eine geringe Provinzstadt gekommen. Ich sehe sie noch vor mir. Helle, freundliche, leblose Gäßchen mit niedrigen Häusern. Der Hauptplatz mit runden, kleinen Steinen gepflastert, zwischen denen lustig das Gras wucherte. Die Sonnenstrahlen glänzten darauf. Nach zwei Tagen war man von der ganzen Einwohnerschaft gekannt und geringgeschätzt. Vor dem Wirthshause „zum rothen Löwen“, wo wir spielten, standen, auf den Säbel gestützt, die Officiere der kleinen Garnison und ließen gewählte Scherze hören, so oft wir vorübergingen. Die besseren Bürger maßen uns wegwerfend, wenn ihre Gattinnen sich in der Nähe befanden, und versengten uns mit verführerischen Blicken, wenn sie allein oder ledig

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/162&oldid=- (Version vom 1.8.2018)