„Ja wohl,“ sagte sie dumpf; „eine häßliche, kleine Geschichte. So wahr und abstoßend wie eine der Krankheiten, die Sie mir im Spital zeigten. Ich will Ihnen Revanche geben.
Das war vor vierzehn oder fünfzehn Jahren. Ich zog damals kreuz und quer durch die Provinz als Mitglied kleiner Schauspielertruppen. Heute da, morgen dort. Ich möchte das nicht noch einmal durchmachen… Ich habe zuweilen Fieberträume, in denen ich angstvoll glaube, noch einmal übers Moor gehen zu müssen bei Nacht, oder daß ich abermals bei dem Herrn Direktor Lemke Engagement nehmen müsse, um nicht zu verhungern… Unter einer „Schmiere“ stellen Sie sich gewiß etwas recht Humoristisches vor, wie? Es ist ganz einfach entsetzlich, das Elend der Namenlosen, dieses namenlose Elend.
Wie tief man sich da für ein Stück Brod demüthigen läßt, welche Gemeinheiten man begeht… Nein, ich will mich nicht aufregen. Ich werde mir denken, daß eine andere Person diese Dinge erlebt habe. Das junge Mädchen, welches damals in zerrissenen, aufgebogenen Stiefletten die regenzerweichte Landstraße hinschritt, war ja auch eine ganz andere, als ich jetzt bin. Sie sehen mir heute nicht mehr an, wie häßlich und mager ich gewesen. Eine Vogelscheuche. Was man gegenwärtig mein „edles Profil“ nennt, war zu jener Zeit eine ganz gewöhnliche krumme Nase. Der Kopf saß mir vorgeneigt auf schmalen, spitzen Schultern; diese Hände waren knochig und roth. Nie verirrte sich das Liebeswort eines Mannes zu mir, und Sie wissen vielleicht, wie schnell die Herren sich dazu entschließen, wenn sie nicht gradezu etwas Abstoßendes vor sich haben. Namentlich die Kollegen paaren sich überraschend leicht. Wenn das Engagement zu Ende ist, löst sich ja auch das Verhältniß
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/160&oldid=- (Version vom 1.8.2018)