Eigenschaft. Sie sind geistreich und dennoch wahrheitsliebend, in der Kunst wie im Leben. So merkwürdig diese Thatsache auch ist, sie überrascht mich bei Ihnen nicht mehr. Höchstens, daß mich irgend ein neuer Zug, eine Nuance, eine zitternde Feinheit entzückt. Wenn ich Ihnen eine Krankheit im Spital gezeigt habe, wissen Sie sie derart nachzumachen, daß ich oft von meinem Sperrsitz aufspringen und Ihnen zu Hülfe eilen möchte – um Gotteswillen, sie stirbt wirklich!…“
„Werden Sie bald aufhören, mich zu loben, Doktor?“
„Wodurch Sie mich aber immer wieder bis zur Sprachlosigkeit verblüffen, Frau Käthe, ist, daß Sie sich so unglaublich schnell anziehen. Das wollte ich sagen.“
Sie lächelte. Dann wurde sie plötzlich ernst und starrte finster vor sich hin nach der Wand, die mit Lorbeerkränzen, Atlasschleifen, Bildern in reichem Rahmen farbig herausstaffirt war, von Seide und Gold strahlte.
Der Arzt fügte hinzu: „Ich habe die Garderobe mancher Künstlerin gesehen. Da ist ein so fahriges Gethue, eine Unruhe und Aufregung, immer noch ein letzter, ein allerletzter Blick in den Spiegel, noch eine Stecknadel anzubringen unmittelbar vor dem Auftreten. Sie dagegen, obgleich Sie die wichtigste Person sind, sitzen längst fertig da, und vor der Thür Ihre Dienerin wie eine gelassene Schildwache.“
„Sagen Sie der Schildwache, daß ich jetzt keinen Besuch empfange, und ich werde Ihnen erzählen, wie ich das lernte, was Sie so außerordentlich bewundern. Vielleicht wäre ich nie geworden, was ich bin, wenn ich das nicht hätte erleben müssen.“
Der Doktor kam von der Thüre zurück und setzte sich wieder hin: „Eine Geschichte?“
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/159&oldid=- (Version vom 1.8.2018)