Da nahm Wilhelm das Wort: „Wir haben nun die Entbehrungen des Reichthums, die Demüthigungen der Ehre, die Unfruchtbarkeit der Familie gehört. Lasset euch mein Leben sagen, und warum ich mich unterfing, auch zum Stelldichein zu kommen, obwohl ich nichts bin, nichts habe und nichts vorstelle. Nach der Universität habe ich mich eine zeitlang in der Schriftstellerei versucht. Dann machte es mir eine kleine Erbschaft möglich, diese Beschäftigung aufzugeben, bei der man durch gemeinen Neid, Ränke und Gevatterschaften mit Ekel bis da hinauf angefüllt wird. Ich reiste. In England und Frankreich lernte ich neuartige Wohlfahrtsbestrebungen kennen, hier seht ihr deren bescheidene Nachbildung. Ich lebe mit armen und unwissenden Leuten, welche vom Elend hereingeführt werden. Sie gehen wieder, nachdem sie ein wenig aufgerichtet und gestärkt worden sind. Ein Lehrkörper von gutgearteten Jünglingen hat sich rasch um mich versammelt. Wir tragen nützliche Bildung unter die Armen hinaus, keine politischen Redensarten. Ich meine, die neuen Entdeckungen und Erfindungen sollen nicht denen allein zu statten kommen, die schon genug haben. Ich lehre meine Leutchen, wie groß, wie weit, wie schön die Welt unseres lieben Herrgotts ist, und daß sie nicht gleich die Flinte ins Korn werfen müßten, wenn es an einem Orte schlecht geht. Ich lehre sie hoffen, indem ich ihnen zeige, wie hoch wir in der Kultur schon halten. Denn es ist ja eine Zeit, die an die glorreichen Jahrhunderte der Renaissance und Reformation gemahnt.“
„Sag’ einmal,“ schaltete der Millionär mit einem bösen Lächeln ein, „pflegt Dir nach einem solchen Vortrag nicht die Taschenuhr zu fehlen? Führst Du überhaupt Buch über den Undank?“
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/153&oldid=- (Version vom 1.8.2018)