als mein Sohn, mein Enkel, immer jung, immer schön und stark, in zunehmender Veredlung … So geht’s ja jedem Vater. Auch erwähne ich dieses Wohlbekannte, Selbstverständliche nur darum, weil bei mir die Liebe zum Sohn einen nervösen Zug hatte. Ich war vom ersten Tage an in ihn verliebt, leidenschaftlich, närrisch. Ich hatte sozusagen die Monomanie des Sohnes.
Das Wunderbare ist, daß ich ihn dabei doch nicht verzog. Freilich, er ist so gut veranlagt. Er hat ein so treues, standhaftes Herz, Instinkt für alles Hohe und Mitleid für alles Elend. Gar manche Lehre der Menschlichkeit verdankte ich seinem stammelnden Kindesmund. Und mit seinen unverdorbenen Augen gewöhnte ich mich, die köstlich verjüngte Welt anzuschauen. So wurde ich auch im andern Sinne mit dem Erscheinen meines Sohnes neugeboren … Auf den ersten Jahren liegt für mich noch jetzt der blonde Glanz seiner Locken. Was waren das für unvergeßliche Spazierritte rund um das Zimmer. Ich das Pferd und er mit Hü und Hott und Händeklatschen der Reiter. Dann wuchsen wir heran und lernten. Ich mit ihm. Ich hatte den Ehrgeiz, mich von ihm im Wissen nicht überflügeln zu lassen. So wurden die alten Kenntnisse aufgefrischt, aber den Schulplunder ersparte ich uns. Mein Haus wurde nicht unnütz gequält, saß nie in einem Pferch mit anderen mißhandelten Kindern. Zusammen machten wir die homerischen Kämpfe durch, lasen die Anabasis, und als wir mit den Rückkehrenden das Meer, das Meer wiedersahen, überflog uns beide ein gleicher Schauer der Rührung. Und die Erkenntniß der Naturkräfte! Was war in diesen Lehren während meiner Abwesenheit hinzugewachsen! Um wieviel weiter war die Welt geworden, seit ich die Schulbücher meiner Jugend zugeklappt hatte! …
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/122&oldid=- (Version vom 1.8.2018)