gehen! Man unterschlägt nicht die anvertrauten Gelder von Wittwen und Waisen! Und jahrelang hat das dreiste Spiel gedauert! Jahrelang hat sich der Angeklagte den Schein des aufrechten Mannes gegeben, hat er vorzügliche Ehrenstellen bekleidet, seinen Mitbürgern die Achtung abgelistet, den Stachel des Neides tief in das Herz der Besitzlosen gebohrt. Sein Gauklerwagen in der Mitte des Fahrweges, wo nur schuldenfreie Karossen rollen durften – wenn überhaupt … Und vom einzelnen Falle schwingt sich der Redner zu den bekannten allgemeinen Betrachtungen auf, indes der Vertheidiger sich vorläufig kampfesfroh die Manschetten zurechtzupft. Auch dieser führt eine nicht unbedeutende Klinge. Die Blößen, die sich sein verehrter Gegner und glänzender Vorredner gibt, erspäht der Vertheidiger und wird sie in dieser ritterlichen Wortfehde wohl verwerthen. Auch er wird sich vom einzelnen Fall in unerwarteter Weise aufschwingen zu den allgemeinen Betrachtungen, natürlich von einer andern Seite. Denn zu den allgemeinen Betrachtungen gelangt man von den verschiedensten Seiten.
Der Staatsanwalt schließt. Bei dem reuigen, vollen Geständnisse des Angeklagten – wie späterhin auszuführen, der einzige Milderungsgrund – sei der gerechte Schuldspruch unbedingt zu erwarten. Redner hoffe auf Einhelligkeit im Verdikte der Geschworenen, als eine glänzende Genugthuung für die frech beleidigte öffentliche Moral. Beifall im Zuschauerraume. Der Vorsitzende rügt diese Ausschreitung und verkündet eine kurze Pause. Der Angeklagte erhält von seinem Nachbar, dem Justizsoldaten, einen Wink, aufzustehen. Beim Hinausgehen lächelt er in den Zuschauerraum, was von strengeren Beobachtern als Roheit und Verhärtung ausgelegt wird. Aber er hat
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/119&oldid=- (Version vom 1.8.2018)