Sterbendes Nachmittagslicht im Marmorsaale des Schwurgerichtes. Die Köpfe der Zuschauer in den hinteren Reihen versinken allmählich in der raschen Dämmerung dieses Wintertages. Nur die in den vorderen Bänken kann der Angeklagte noch von seinem Platze aus unterscheiden. Da sitzen sie, müßig und lernbegierig, die aufgestützte Hand hinterm Ohre, die Stammgäste dieses Lokals: kommende Cridatare, beschäftigungslose Advokaten. Und mitten unter ihnen Einer, dessen blasse Züge der Angeklagte so gut kennt: sein Sohn … Weiterhin die Journalisten, blasirt und hastig; tief auf ihr Papier gebeugt, raffen sie Anmerkungen zusammen für das Morgenblatt. Der Angeklagte ist so stumpf durch die zweitägige Verhandlung, in der aller Unrath, alles heimliche Ungemach seines Privatlebens aufgerührt worden, daß er bloß fortwährend mit einem thörichten Drange kämpft, aufzustehen und den Vorsitzenden um Licht zu bitten für die armen Schreiber, die sich dort die Augen verderben. Warum man eigentlich die Gasflammen noch nicht angezündet hat? Ach so, um den Redner nicht zu unterbrechen. Der Staatsanwalt hat das Wort.
Er hat es schon seit anderthalb Stunden. Er gießt die volle Schale der landläufigen Moral über das Haupt des Schuldigen aus. Man lebt nicht über seine Verhältnisse! Man treibt keinen Aufwand, wenn man schon zahlungsunfähig ist! Man fährt nicht in der Equipage, während die ahnungslosen Gläubiger zerknirscht zu Fuße
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/118&oldid=- (Version vom 1.8.2018)