Dann kam Commercy, und bei Commercy endete mein Glück. Sie stieg mit ihrem Begleiter aus. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Ich stand am Fenster und sah hinaus auf den Perron. Da war sie noch einmal, blickte mich noch einmal an. Jetzt lächelte sie nicht mehr, die feinen Mundwinkel waren herabgezogen, verachtungsvoll. Galt auch das mir oder wieder einem Anderen? … Zwei Stunden später hatte ich sie vergessen.
Der Offizier, mit dem ich vor Paris in ein Gespräch gerathen war, brachte sie mir wieder ins Gedächtniß. Ehe wir uns trennten, sagte er mir scherzend: „Wissen Sie nicht? Die Dame von Commercy, sie hat Ihnen Augen gemacht! … Viel Glück noch weiter!“
Mir? War’s möglich?
Das Pariser Leben nahm mich auf. Ich brauche Ihnen das nicht zu schildern. Aus einem Taumel in den anderen. Ich machte lustige Bekanntschaften, auch in der besseren Gesellschaft. Es währte nicht lange, und ich verstand mich selbst auf die Frauen – so weit wir sie überhaupt jemals verstehen können. In einem Wirbelwind stoben die Monate davon. dann wurde ich in Geschäften heimberufen. Ohne sonderliches Bedauern reiste ich ab. In dem unaufhörlichen Genießen war ich ein wenig stumpf geworden. Ich kehrte also gelassen heim.
Während der ganzen Pariser Zeit hatte ich nicht eine Sekunde lang an jene flüchtige Begegnung gedacht. Erst auf der französischen Grenzstation fiel sie mir wieder ein. Da stand nämlich ein struppiger Junge und hielt Düten mit Naschwerk feil. Dazu gröhlte er: „Madeleines de Commercy!“ So heißen diese Süßigkeiten. Welch ein reizender Name und wie gut paßte er für die Unbekannte mit dem süßen Lächeln …
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/110&oldid=- (Version vom 1.8.2018)