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Was konnte auch gleichgültiger sein, als ob sich Kilchberg und sein Vetter jetzt noch die leeren Hände reichten oder nicht. Und dennoch fanden sie sich wieder. Dies geschah, nachdem sie schon einige Zeit in der Armuth verbracht hatten. Zuerst waren sie nämlich lichtscheu gewesen, wie alle gesunkenen Leute. Dann bemerkten sie, daß sich Keiner mehr um sie kümmerte. Da schlichen sie aus, verbrachten ihre beschäftigungslosen Tage als Gaffer vor Schaufenstern und mit anderen Unterhaltungen, die nichts kosten. So geriethen sie auch zufällig beide in eine Volksversammlung, in der stark von Brüderlichkeit die Rede war. Diese Worte gefielen ihnen gar wohl, und sie blickten einander aus der Entfernung wie auf ein Zeichen an, nicht mehr mit Haß, eher schüchtern und vorwurfsvoll. Beim Ausgang trafen sie zusammen, und sie gingen wie auf eine Verabredung Seite an Seite fort. Gingen ganz wortlos, denn sie hatten so lange nicht mit einander gesprochen, daß sie sich nichts zu sagen wußten. Sie fühlten nur, daß sie wieder gut waren, Freunde, mehr als Freunde, die Zwillingsvettern von damals.

Kilchberg, nach wie vor der Stärkere, begann mit einer Anspielung auf das eben in der Versammlung Gehörte:

„Der Redner sprach manches wahre Wort.“

„Ja wohl“, sagte Martin nachgiebig wie in der alten Zeit, „manches wahre Wort.“

„Wir sind Brüder, und wir sollten auch immer Brüder bleiben“, fuhr Kilchberg fort. „Bist Du nicht auch derselben Ansicht?“

„Ich bin ganz derselben Ansicht“, entgegnete sein Vetter ernst. „Aber – nimm es mir nicht übel – ich glaube, die richtige Brüderlichkeit haben wir nur dann, wenn wir nichts Anderes haben.“

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/103&oldid=- (Version vom 1.8.2018)