jammern mich die Menschen, denen ich weh thun muß. Könnte ich mein Archonten-Amt niederlegen, mir wäre besser zu Muthe. Aber sie würden mich in jeder Noth wieder rufen, weil ich in Attika der Einzige bin, dem Alle vertrauen. Dann käme ein Tag, an dem ich aus Mitleid oder um mir die Volksgunst zu erhalten, ein Loch in meine Tafeln schlüge. Ich bin ein Mensch, Hipponikos, und mißtraue meiner Schwäche.“
„Das ist freilich eine böse Lage“, sagte Hipponikos nachdenklich. „Und was gedenkst Du nun zu thun? Ich sehe einen Entschluß in Deinen Augen.“
„Ich dachte ans Sterben. Es wäre groß, wie Kodros Opfer, wenn ich den Giftbecher leerte. Niemand hätte dann die Kraft, meine Tafeln zu ändern. Aber Athen wird mich noch brauchen. Lykurgos und Miltiades, des Kypselos Sohn, und Megakles und mein Verwandter Peisistratos würden das Land nach meinem Tode muthmaßlich in Fetzen reißen. Den Peisistratos, der sich auf die mißgestimmten Diakrier stützt, halte ich für den gefährlichsten, weil er der Liebenswertheste ist. Darum will ich es so einrichten, daß ich dem Volke nicht völlig verloren gehe, wenn ich mich ihm auch entziehe. Ich will eine lange Reise unternehmen. Ich lasse mir von den Bürgern Urlaub geben. Bis ich wieder komme, werden meine Gesetze ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sein. In meiner Abwesenheit wird Niemand mein Werk zu ändern wagen aus Furcht vor meiner rächenden Heimkehr. Der ferne Solon ist schrecklicher, als der, den sie täglich sehen können. So schütze ich meine Tafeln vor Parteien und Tyrannen, und vor mir selbst.“
So that Solon. Es war sein Gedanke, zehn Jahre dem Vaterlande fern zu bleiben. Den Bürgern machte er begreiflich, daß er nach erfüllter Archontenpflicht nun auch
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)