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Nachtreter sitzen, wagt sich die Rhetorik wieder hervor. Sie hat von der philosophischen Methode so viel angenommen, um ein System zu zimmern. Wer die Lehre des Hermagoras mit dem sogenannten Anaximenes vergleicht, findet einen ungemeinen Fortschritt der Methode. Diese Rhetorik zielt zwar auf die Beredtsamkeit des praktischen Lebens, insbesondere die gerichtliche, von der die Declamation ein Abbild ist, aber sie beansprucht theoretisch die πολιτικὰ ζητήματα auch so weit sie τὰ καθ’ ὅλου umfassen, zu behandeln.[1] Wir können ihren Erfolg direct noch nicht abmessen, und wir entbehren insbesondere ganz der Proben von dem, was praktisch geleistet ward: aber die Philosophie muss ihre Stellung als bedroht angesehen haben, denn alle Schulen gingen zum Angriff vor, Kritolaos, selbst ein eleganter Schriftsteller,[2] Diogenes von Babylon, Karneades.[3] So ist die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts von dem Kampfe erfüllt, εἰ τέχνη ἡ ῥητορική, und über ihr τέλος und ἔργον. Auf Seite der Rhetorik wissen wir von einer Gegenschrift des Molon κατὰ φιλοσόφων, und die Rhetorik halte keine schlechte Position; es ist ihr nicht wieder gegangen wie im 4. Jahrhundert, sondern sie hat sich theoretisch überaus vervollkommnet. Praktisch kam ohne Zweifel sehr viel darauf an, dass die Herren der Welt, die in dem gewaltigsten politischen Kampfe standen, nach der Waffe des Wortes und der Schrift griffen, die ihr die Rhetoren fertig geschliffen darbieten konnten. Es ist namentlich durch die bahnbrechenden Ausführungen von Marx klar geworden, dass die Reredtsamkeit und Publicistik der römischen Revolution, zu der die Historiographie ganz gehört,[4] von der zeitgenössischen griechischen Rhetorik beherrscht ist, nicht bloss in der Lehre, sondern viel weiter als wir es verfolgen können


  1. Thiele, Hermagoras 30 ff., zu dem aber Arnim 92 ff. hinzugenommen werden muss.
  2. Das spürt man namentlich in den Auszügen bei Philon de aetern. mundi.
  3. Sudhaus und Radermacher in dem Supplement zu Philodems Rhetorik mit den Berichtigungen Arnims.
  4. Wir sehen die tendenziöse Dichtung der sogenannten Annalisten der Revolutionszeit gewöhnlich nur von der Seite an, wo sie als Geschichstfälschungen unseren Aerger erregen. Aber sie verfolgten durchaus praktische Zwecke und die Umformung der vaterländischen Geschichte ist hier nicht verwerflicher, als in der Poesie und Tendenzschriftstellerei des 5. Jahrhunderts bei den Griechen.
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Asianismus und Atticismus. In: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie Bd. 35. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1900, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermes_35_017.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)