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Wenn sich demnach die Asianer eigentlich als solche niemals gefühlt, haben, und mit der Zeit des Tiberius auch die Polemik gegen sie ganz verschwindet, wenn diese ganze Litteratur damals untergeht, so kann die Ansicht von Rohde unmöglich zutreffend sein, dass die sogenannte zweite Sophistik die Fortsetzung des Asianismus wäre, es sei denn, man legte diesem Terminus etwas ganz anderes unter, als er im Alterthum bedeutet. Darüber zu urtheilen müssen wir uns die zweite Sophistik ansehen. Dieser Regriff stammt ausschliesslich aus den βίοι σοφιστῶν des Philostratos; was er werth ist, muss sich aus der Tendenz dieses Ruches und ihrer Tragweite ergeben.

Es scheint freilich so, als wäre die alte Sophistik, von der Philostratos stolz ausgeht, durch Niketes II. von Smyrna und Dion von Prusa unter den Flaviern plötzlich wieder aufgelebt. Aber bei näherem Zusehen stellt es sich ganz anders. Erstens fehlen zwischen Aischines und Niketes so gut wie alle Namen, und die sich finden sind nichts mehr als Namen und waren es auch nicht für Philostratos. Er hat von der gesammten rhetorischen Litteratur zwischen den attischen Klassikern und der Flavierepoche gar nichts gewusst, geschweige gelesen. Die Asianer und die Rhodier, die Declamatoren der augusteischen Zeit und noch die der neronischen sind für ihn verschollen. Man würde aber schwer irren, wollte man glauben, dass er von den alten Sophisten mehr wüsste, so dass sie etwa wirklich Vorbilder der neuen gewesen wären. Denn was von Protagoras, Prodikos, Hippias, Polos, ja sogar Thrasymachos bei ihm steht, zeigt, dass er, oder besser seine ganze Zeit sie nicht mehr kannte. Gorgias[1] und Kritias (dieser durch Herodes entdeckt, von Philostratos besonders nachgeahmt) sind noch gelesen, wie Aischines und Antiphon und Isokrates,[2] obwohl er auch von


  1. Dessen Nachahmung hebt er bei Skopelian hervor, was man glauben mag. Von seinem Lehrer Proklus sagt er (II κα’), er hätte selten eine διάλεξις gehalten, that er es aber, ἱππιάζοντι ἐσάκει καὶ γοργιάζοντι, d. h. über einen allgemein moralischen Stoff sprach er so prachtvoll wie Hippias und Gorgias, bei Platon nämlich. Wollte man es wörtlich nehmen, so hätte es noch etwas von Hippias gegeben, was notorisch nicht wahr ist und mit dem Artikel des Philostrat über ihn direct streitet. Norden I 385 hat sich täuschen lassen und operirt auch mit dem Weiterleben von Schlagwörtern der alten Sophistik, als ob der Journalist die Herkunft der fremden Federn kennte, mit denen er sich putzt.
  2. Die Sophisten des 4. Jahrhunderts, die so recht hergehörten, Polykrates, Anaximenes, Alkidamas, Theodektes fehlen auch: so viel ärmer war die Litteraturkenntniss seit Ciceros Zeit geworden.
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Asianismus und Atticismus. In: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie Bd. 35. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1900, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermes_35_009.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2018)