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Niederbayern. Sie verdient es, hier genannt zu werden, weil ihre Geschichte in die Bewegungen des ausgehenden 16. Jahrhunderts eingreift und ihre Geschicke in kleinem Spiegel die Geschichte unserer Kirche wiedergeben. 1563 am 17. Oktober hielt Magister Cölestinus in der Frauenkirche des Marktes Ortenburg bei Passau, geladen von dem ehrenfesten und bekenntnistreuen Grafen Joachim von Ortenburg und seiner von ihm für das Evangelium gewonnenen mutigen Gemahlin Ursula aus Fuggerschem Geschlechte, die erste evangelische Predigt, die unter allen Widrigkeiten nimmer verstummen durfte, vielmehr in den Schrecken des dreißigjährigen Krieges den vertriebenen Glaubensgenossen aus dem Lande ob der Enns die Heimat ersetzte. Als am Jubiläumstage aus den entlegensten Orten der niederbayerischen Diaspora die verstreuten, oft der Vereinsamung und Verkümmerung ausgesetzten Glaubensgenossen sich gegen Ortenburg aufmachten, um mitzufeiern und mitzudanken, und die Predigt über Ps. 77, 6 die Herzen auf die Pflicht der Erinnerung wies, daß sie eine Kraft sei und zur Tat treiben müsse, über den Gräbern der Bekenner, an den Grüften der ritterlichen Grafen die alten Glaubenslieder angestimmt wurden, da konnte unserer Kirche Art und Wesen deutlich werden. Sie feiert mit einfachen Mitteln, mit dem Liede ihrer Wallfahrt, dem Chorale, dem eine große, ernste Geschichte innewohnt, von Not hineingebetet und herauserklungen mit Dank und Lob. Ihre Feiern sind schlichte Zeugnisse von wenigen Treuen, nicht vielen Edlen und Gewaltigen, aber von etlichen Echten und Beharrlichen, ihre Hoffnung steht auf den Kräften, denen sie ihr Dasein verdankt. Mitten in die Not der Verkennung und Verfolgung verwiesen, zieht sie immer wieder die Einsamen an, mit denen sie zur rechten Zeit das heilsame Wort reden kann, und erweist sich durch ihre Erfahrung als mütterliche Trösterin. Aus den Gräbern der Heiligen und über den Schlachtfeldern, dahin man sie drängt, wird das Bekenntnis, das ihr Herr in der Stunde, da man’s am wenigsten hoffen konnte, Luk. 22, 28, den Jüngern bezeugt hat, laut und weithin bekannt, welchen Lohn das Bleiben der Beständigkeit und die ausharrende Geduld der Treue am Ende davon tragen soll.

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 Auf ein Jubiläum, dem unscheinbaren nach Art und Wesen vergleichbar, rüstet sich die Kirche. Das Jahr 1917 steigt herauf

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Hermann von Bezzel: Zeitbetrachtung. A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1914, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Zeitbetrachtung.pdf/7&oldid=- (Version vom 10.9.2016)