Seite:Hermann von Bezzel - Zeitbetrachtung.pdf/11

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

auch in keiner weniger Kraft diese Wahrheiten zur Geltung zu bringen sieht, – von Sieg zu Sieg schreitet, woran nach der Grundanschauung der neutestamentlichen Weissagung nicht zu zweifeln ist, so werden zuerst die äußeren Verbindungen zwischen Staat und Kirche gelöst, dann die inneren, durch Jahrhunderte segensreich gewesenen Beziehungen gefährdet werden. Der Ansturm gegen die geistliche Schulaufsicht ist gewiß von ihrer vielen gut gemeint: man will die Lehrer einer ihres Bildungsgrades und ihrer Leistungen scheinbar unwürdigen Bevormundung entziehen und einer ihnen doch nicht ganz gerecht zu werden vermögenden Aufsicht entnehmen und ihnen Vorgesetzte nach ihren Herzen geben. – Aber nach der Überzeugung des Verfassers dieses Artikels stehen innerhalb der Lehrerwelt und noch mehr außer ihren Kreisen ganz andere Tendenzen im Hintergrund, welche nach dem Gesetze der Schwerkraft durchdringen wollen und werden. So tut die lutherische Kirche, die auch äußerlich ärmste, wohl daran, Mittel zu sammeln und auf Wege zu sinnen, mit denen sie sich durch die Zeit erhalten und auf denen sie gehen kann, um ihre Weltmission zu erfüllen, freilich des gewiß, daß Einer ihren Füßen weiten Raum geben und vor ihm, wenn Finsternis deckt, auch der nächtige Weg licht sein kann.

.

 Die lutherische Kirche – die „einsame Kirche, über die alle Wetter gehen“: das ist nicht empfindsame Redensart, sondern eine Tatsache, welche sie stärken und erheben kann und muß. Das Unklare und Verschwommene, das Unbedeutende und Mittelmäßige hat keine Feinde und erregt nirgends Gegnerschaft: man überläßt es dem ihm einwohnenden Sterbeprozeß. Aber der bedeutsame Kontrast zwischen dem idealen Rechtsanspruch der Kirche, Wohltäterin der Welt in Behütung und Ausspendung der Reichtümer des Evangeliums zu sein und in bewußter und willentlicher Beschränkung den weitesten Gesichtskreis zu haben – und der mühsamen Behauptung ihres Sonderrechtes und der kümmerlichen Ausübung und Verwertung ihrer Gaben im öffentlichen Leben, die Unbehilflichkeit und Schwerfälligkeit, mit der sie in Erscheinung tritt, erwecken ihr allenthalben Gegner. Der Katholizismus, dessen weltgewandte Tätigkeit in weltförmiger Arbeit wie in weltabgewandter Askese sich zeigt, der den Augenblick ausnützt, damit er der Zukunft nach seinen Plänen diene, kann unsere Kirche so wenig verstehen

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Zeitbetrachtung. A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1914, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Zeitbetrachtung.pdf/11&oldid=- (Version vom 10.9.2016)