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Pregizer von Haiterbach, der Begründer der sogenannten „Galoppchristen“, weil „die ganze Bekehrung und Wiedergeburt in einer halben Stunde abgetan sein könne“, lehrte, daß für die Gläubigen die fünfte Bitte ausgeschaltet werden müsse, da sie nimmer Sünde tun mögen, das wird jetzt mit starken Ausdrücken wiederholt.

 Aber sehen wir näher zu, wie leicht manche Sünden z. B. der Zunge genommen werden, sobald sie gegen Unbekehrte sich richten, wie in die freien Gebete geistliche Steckbriefe eingeflochten werden, in denen der liebe Nächste so klar gezeichnet wird als der betagte, im Weltleben beharrende, zur Erkenntnis nicht durchgedrungene, daß man füglich gleich den Namen nennen könnte, so merken wir, daß die Begrenzung der Sündlosigkeit ziemlich enge sein muß. Die „Beichten“, die bei den Versammlungen in Nebenzimmern gehalten werden, scheinen auch weit mehr auf grobe Irrungen und Darstellung von Stimmungsbildern sich zu beschränken, als auf die Prüfung der argen Gedanken des Herzens sich zu erstrecken. Wenn ich bestimmte Gebiete der sündigen Betätigung gleichsam reserviere, so kann ich es auf ihnen zu einer gewissen Abgewöhnung bringen. Aber die ganze Persönlichkeit will umgewandelt sein, deren größter Fortschritt in der Erkenntnis der Sünde besteht. Dinge, die mir vor Jahren klein und belanglos erschienen, stellt der Herr im Verlauf des Lebens ins Licht vor seinem Angesicht. Wir fürchten uns vor dem, der ins Verborgene sieht, und obgleich wir wissen, daß er zwischen uns und unserer Sünde steht und daß die Gnade noch viel mächtiger geworden ist, trauern wir doch über die Macht und Gewalt der Sünde. An dieser Vollkommenheitstheorie, die das Diakonissenhaus der Bekehrten in Vandsburg ins Leben gerufen hat, wird die ganze Bewegung scheitern und den Schmerz erleben müssen, daß das im Geiste Begonnene im Fleisch enden wird. „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst“, ja wir machen Den zum Lügner, der sich nicht spotten läßt, sondern auf die Saat der Sicherheit die Ernte der Verzweiflung folgen lassen kann.

 Um meinetwillen, der ich immer wieder in Sünden gerate, bleibe ich bei der Kirche, die mit mir in der Kraft des hohenpriesterlichen Hauptes Geduld trägt, die, in fortschreitender, nicht absteigender Bewegung auf einander folgend, 1. Kor. 15, 9. Eph. 3, 8 und 1. Tim. 1, 15 lesen und lehren kann. Je näher wir der Heimat kommen, desto heller erkennen wir unsere Sünde und lernen verstehen, daß keine Kreatur hat

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Hermann von Bezzel: Warum bleiben wir bei unserer Kirche?. Buchhandlung der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1906, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Warum_bleiben_wir_bei_unserer_Kirche.pdf/20&oldid=- (Version vom 10.9.2016)