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Aber die große Gefahr ist, daß alle diese Begriffe leere Formen sind, denen das Leben entweicht nicht um ihretwillen, sondern um dererwillen, die sie ohne Würde und Weihe brauchen. Die größte Seelsorge, die man an den jungen Schülerinnen übt, ist, daß man sie auf den Grund der Heilsentwicklung führt und daß man ihnen das eine recht ans Herz legt, was es um die Sünde Elendes und Zerstörendes, und was Lebensvolles und Lebenskräftiges es um die Gnade ist. Man soll bei allem Ernst der Katechismusunterweisung recht – wie ich immer gesagt habe – auf Grundbegriffe dringen. Sieh, das ist Sünde, wenn man wochenlang ohne Sehnsucht nach Jesu einhergeht, wenn das Heimweh wie eine Kinderkrankheit dir erscheint, wenn die äußere Arbeit die Hauptsache ist, oder wenn du mit einer Menge von Kleinlichkeiten dich tot trägst, während dein Herr auf die Höhe dich fahren heißt, damit du einen Zug tust. Man muß den blauen Schülerinnen das Wort des seligen Richard Rothe oft vorhalten: „Kurz bemessene Gesichtspunkte wirken entsittlichend.“ Es heißt nicht: Schaue mit deinen Augen in die Ecke! Es heißt nicht: Versenke dich in die Erbärmlichkeiten des Lebens! Es heißt nicht: Wirke mit der Enge, die dir aus Herkunft und Art geworden ist; wobei es ganz verschiedene Engen gibt. Die natürliche Herkunft befreit nicht von der Enge; es ist ganz einerlei, ob man in eine tapezierte Ecke blickt oder in eine getünchte, sondern es heißt: Hebe deine Augen auf! Ich meine, das wäre der wahrhaft befreiende Dienst der Seelsorge an unsern jungen Schwestern, wenn man’s ihnen sagte: Weg mit dem Kleinkram! haßt diese Erbärmlichkeiten des Lebens! Ach, nirgends macht sich der Kleinkram lästiger erkennbar und fühlbar als in einem Beruf, der so viel Größe braucht um etwas Großes zu leisten. Jene Predigt am Ende des 18. Jahrhunderts, welche für den ganzen Missionsbetrieb maßgebend und erwecklich ward, die Predigt des einstigen armen Schuhmachers Carey, der dann später einer der bedeutendsten englischen Missionare war, hatte die zwei Sätze: „Erwarte Großes von Gott,und wage Großes für Gott!“ Indem man das in diese dumpfe, verschränkte Kleinkrämerei des Lebens hineinruft, stößt man die blinden Fensterscheiben auf, damit die Gnadenluft herein und die böse Stickluft hinausziehen kann, und macht die Seele frei. Man sage ja nicht, die blaue Schule, also unsere Diakonissenvorschule, soll sich daran genügen lassen, etwelche Katechismuswahrheiten zu vermitteln. Die Höhe wird es immer sein, bei aller Gründlichkeit im einzelnen die ganze Weite des heiligen Feldes zu erschließen. Wenn eine junge Schwester einmal aufatmet in der hellen Freude wie groß ihr Heiland ist und wie groß sie ist, daß sie einen solchen Heiland