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aus der Nachahmung entstanden und in der Ernstlichkeit von Maß und Größe des Nachzuahmenden wie des Nachahmenden bedingt. Nachahmung ist ein, ich möchte sagen, vegetativer Trieb. Was das Kind sieht und hört, hört, ehe es reden kann, das behält es nicht in seinen, aber in einem getreuen Herzen. Darum sollten Eltern und solche, die mit kleinen Kindern und ihrer Pflege betraut sind, wohl sich hüten bei jedem Blick, bei jedem Wort und Tun. Das Kind sieht den bittenden Blick der Mutter, den sie dem hart scheltenden, schwer redenden Gatten nachsendet, nimmt diesen Blick herein in seine kleine unberührte Welt und sendet aus dieser Welt dem Vater auch seine Abgunst. Das Kind nimmt wahr, wie die Mutter vor dem kommenden Vater dieses und jenes verbirgt und wenn es heranwächst, lernt es auch verheimlichen und verbergen. Wenn die Eltern sich nicht hüten, in all der Bezeigung von Freundlichkeiten und Freundschaft das würdige und rechte Maß zu halten, das auch im unsichtbaren Gott seine Bemessung findet, so werfen sie in die Kindesseele den Feuerbrand, der dann lange nachglüht und -glimmt. Und wenn dann die Mutter erschrocken fragt, „woher das Unkraut“? und der Vater händeringend bei dem heranwachsenden Kinde zerstörende widrige Einflüsse bemerkt, können sie nicht sich trösten, daß das der Feind getan habe, sondern die tiefste Anklage wendet sich gegen sie selbst. Ehe das Kind Vater und Mutter sagen kann, nimmt es harte Scheltworte, rohe Schmähreden, bittere Vorwürfe in einen Verstand auf, der über Recht und Unrecht des Gesagten nicht reflektieren kann, der einfach das Wort auf sich selbst gestellt und an sich genommen hereinbezieht, um es zu gelegener Zeit wiederzugeben. – Ach, daß das Vorbild der Eltern und Erzieher recht geweiht und geheiligt würde! „Ein Vater, der soll stets zu seinem Herrn beten: Herr, lehre mich dein Amt bei meinem Kind vertreten.“ (Rückert.) Ein anderer Dichter – Hebbel – hat einmal gesagt unter allen Rätseln und Problemen, die Gott dieser Welt aufgab, sei das Kind das allergrößte. Nur die Liebe könne es lösen und die Vorsicht sein Schicksal bewahren. Wenn das Vorbild ein geheiligtes, wenn das Kind von einer Friedensatmosphäre umringt ist, die höher ist als alle menschliche Psychologie, weil sie über allem Erwarten ist und vom Kreuz Nahrung und Stellung findet, dann wächst dieses Kind in dem Bereich der Friedensgedanken zu einer gottgefälligen Entwickelung empor. –

 Wir müssen das Kind schonen, sagt das Volk und hat aus diesem Begriff das Wörtlein „schön“ herausgeholt. Alles, was schön und rein und reich ist, soll dem Kinde dargestellt werden, all die Herrlichkeit in der Natur, all die Schönheit im Bildwerk, die Wunderbarkeit in Sang und Klang. Noch nach Jahren wirkt der mütterliche Sang in dem Herzen des Mannes nach. Nach vielen Jahren denkt er noch des ersten lieben Grußes, den er mit Bewußtsein aus dem Lächeln der Mutter entnahm. Und diese Friedensgrüße des wahrhaft Schönen aus zarter Sorgfalt mütterlicher Treue und aus ernster Behütung väterlichen Gewissens wirken weiter und glänzen bis an das Ende der Tage, denn die Kraft, die bei der Erziehung des Kindes zuerst in Betracht genommen werden muß, ist die wundersame Kraft, wie Plato sagt, des Gedächtnisses.

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Die Pflege der Kindesseele. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1918, Seite 08. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Pflege_der_Kindesseele.pdf/8&oldid=- (Version vom 8.9.2016)