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Verehrte Anwesende!

Wir stehen gegenwärtig zwischen zwei einander fast ausschließenden Anschauungen über die Pflege des Kindes und der Kindesseele in ihren ersten Jahren. Die eine Anschauung, mehr von äußeren physiologischen Erwägungen aussgehend, will das Kindesleben noch vor die Anfänge seiner äußeren Erscheinung verfolgen, um, wenn es anginge, schon Gesetze für die Kindererziehung aufzustellen, ehe dass Kind das Licht der Welt erblickt hat. Wenn nun dieses Wunder der Natur ans Tageslicht gekommen ist, wird jeder Atemzug, das Lallen des Kindes, werden alle die äußeren Verrichtungen und Verpflichtungen so genau analysiert, daß folgerichtig auch das sich regende Innenleben, soweit es überhaupt nicht in Abrede genommen wird, einer strengen Beobachtung, ja einer Sektion, unterstellt wird.

 Während es dem Kinde gesagt wird, es möge doch eine eben in die Erde eingesetzte Pflanze in seinem Wachstum nicht beirren und hindern, nicht immer nachgraben und die zarten Wurzeln aufdecken, wird das Seelenleben des kleinen Kindes in einer Weise bloßgelegt, genau verfolgt, in’s Einzelne beschrieben, daß das Geheimnis, das Gott in und mit einer Seele hat, aufgedeckt wird und in die verborgenen Kammern, in die „Adyta“ des Seelenlebens mit ungeschickter und uns ungeweihter Hand hineingeleuchtet werden will. Dadurch entstehen frühzeitig Karikaturen. Ein Kind, das von den ersten Tagen seines Lebens an so in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wird und dessen heranwachsende Tage so genau unter die Lupe sich genommen sehen, muß uneinfältig werden. Wenn dann später die Beachtung ihm nicht mehr geschenkt wird, wie in frühesten Tagen geschehen, wird es verdrießlich, unbräuchlich und ungut und mehrt dann die Zahl derer, die über das Leben zetern, das sie nie kannten und darüber Vorwürfe machen, daß sie an dem großen Tisch des Lebens keinen Ehrenplatz erhalten haben. –

 Neben dieser überstiegenen Beobachtung des Kindes und seiner Seele haben wir jetzt vielleicht noch mehr die Geringwertung des Kindeslebens zu beklagen. Wem das Kind, das werdende Leben eines Kindes nicht eine Gabe und ein Geheimnis Gottes ist, der es liebt, ein Rätseln zu uns zu reden und eben in solchen Problemen sich uns naht, dem ist das Kind eine schwere, bittere Last, das man möglichst wenig beachtet, um es sich ganz selbst zu überlassen und frühzeitig in ihm das Gefühl zu erwecken, daß es besser nie geboren wäre.

 Wenn wir jetzt die Aufrufe eines entweihten weiblichen Wesens, einer Lilly Braun lesen, wie sie das Kind und die Kindesseele pflegt, frühzeitig in die zarten Keime das Gift des Mißtrauens und des Ungehorsams einträufeln will, damit ja das Kind all der von außen her, wie sie sagt, an die Seele herantretenden Autorität sich kräftig erwehre, wenn wir all die Anstalten, die ich an sich hoch segene und doch als einen

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Hermann von Bezzel: Die Pflege der Kindesseele. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1918, Seite 02. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Pflege_der_Kindesseele.pdf/2&oldid=- (Version vom 8.9.2016)