Er empfand dieses Manko schon lange als eine unangenehme Lücke in seinem peinlichst abgestimmten Kavalierleben.
Zwar hatte ihm ein vernünftiger Arzt geraten, weniger zu bummeln, weniger Burgunder und Sekt zu trinken, seine Nächte in seinem friedlichen, braven Bett, anstatt in den Bars, Ballokalen und an derartigen Orten nervenzehrender Tendenzen zu verbringen. Das wäre für ihn die einzig richtige Therapie. Er wäre kerngesund und litte nur an einem chronischen Kater.
Von dieser uninteressanten Diagnose wollte Scharleß Nulpe indessen nichts wissen. Er hatte sich auf eine regelrechte, zeitgemäße Neurasthenie kapriziert und trug als absoluter Gent diese neueste Note wie seine Londoner Krawatten und seine Schuhe aus Wien.
Wie zu einer schicken Krawatte die gleichfarbigen Strümpfe gehören, so verlangt eine elegante Neurasthenie eine entsprechende Kur.
Er schrieb an unzählige Sanatorien und Heilanstalten, die er in Zeitungen und Almanachen angegeben fand, und ließ sich Prospekte kommen. Ballenweise wurden sie ihm zugeschickt. Er wurde ganz wirr über dem Studium der detaillierten Anpreisungen. Physikalisch-diätetische Heilweisen, Wasserheilverfahren, Trockendiätkuren, Liegekuren, Terrainkuren, orthopädische Behandlung, der Teufel sollte wissen, was nun gerade das richtigste und zurzeit das modernste war.
Er hörte überall bei maßgebenden Bekannten herum und kam zur Erkenntnis, daß der Schrei „Zurück zur Natur“ das zeitgemäße Schlagwort einer koketten Morbidezza war.
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/224&oldid=- (Version vom 1.8.2018)