Paris hat seinen Bois, London seinen Hyde-Park, wo sich die elegante Welt zu bestimmten Stunden zu treffen pflegt. Banausingen hatte „die Kastanienallee“, auf der sich der Bürger, der etwas auf sich hielt und das Savoir vivre erfaßt hatte, zwischen 12 und 1 Uhr mittags erging.
Auf und ab pendelte man zu dieser Stunde auf der Kastanienallee, auf und ab.
Sobald man die Promenade betrat, verschwand das Alltagsgesicht; man setzte eine feierliche Miene auf und schritt ernst und gemessen wie ein Ereignis daher. Der Größe des Augenblicks war man sich voll und ganz bewußt, voll und ganz.
Man kannte einander, oder zum wenigstens wußte man, wer der andere war. Man äugte krampfhaft umher, und sobald man einen Bekannten erblickte, grüßte man tief und auffallend. Vor Leuten, mit denen man per „Du“ war, denen man am Stammtisch respektlos zurief: „Altes Rindvieh, bist du auch da, wie geht’s?“ schwenkte man, wenn man sie zur offiziellen Stunde auf der Allee traf, mit der gequälten Grandezza eines Hidalgo den Hut.
Mußte man viel grüßen, so wurde man beneidet und blähte sich in dem Bewußtsein, eine bekannte Persönlichkeit zu sein.
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/087&oldid=- (Version vom 1.8.2018)