Dem Onkel Willibald hatte ein uralter Schäfer in der Lüneburger Heide gesagt, das Geheimnis des Langlebens wäre, sich nie zu waschen. Er selbst wäre seines Wissens so ungefähr hundertdreißig Jahre alt, und seit hundert Jahren wäre kein Wasser an seinen Körper gekommen. Bei einigen alten Bauern in der Eifel fand Onkel Willibald die gleiche Gepflogenheit. Ihr hohes Alter und ihre Rüstigkeit bewies, daß sie mit ihrer Theorie nicht so ganz Unrecht hatten. Onkel Willibald hatte weiter von einem alten alten Landstreicher aus dem Thüringischen erzählen hören, der sich auch seit Jahren nicht gewaschen hatte, dann aufgegriffen wurde und polizeilicherseits ein Bad verabreicht bekam und, obwohl kerngesund, darnach sofort in Siechtum verfiel und starb. Das gab zu denken.
Onkel Willibald war praktischer Philosoph. Er hatte das Prinzip, sein Leben auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen einzurichten. Er war stolz, wenn er im Volke so eine schlichte Lebensweisheit fand, einen nützlichen Brauch; gleich war diese neue Erkenntnis auch für ihn maßgebend und bestimmend. Indessen war die letzte Entdeckung nur so lange sein Evangelium, bis er wieder auf etwas neues stieß.
„Ich bin ein verflixt heller Kopf. Ich halte die Augen offen!“ sagte er und warf sich selbstgefällig in die Brust.
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/071&oldid=- (Version vom 1.8.2018)