nette, mit Scheren an Bändern um den Hals und an der Seite einen baumelnden Abreißblock, eingesperrt. Manche aßen verstohlen aus einem verborgenen Butterbrotpaket.
Das durfte Herr Cohn nicht sehen.
Aus dem Gesicht der Tante entnahm ich, daß wir nun endlich am Ziel angekommen waren. Meine Lethargie wich ein wenig. Es war aber noch nicht aller Tage Abend! O, ich Kleingläubiger!
Sobald die Tante kurz den Wunsch nach Blusenseide geäußert hatte, kletterten – husch, husch! – entzückende Lackfüßchen auf gelben Leitern an den Bibliotheksregalen hinauf. Oft blieb der Rock an einer Sprosse hängen, welches Malheurchen ein graziöses Beinchen mir entgegenkommend dekolletierte. Die Tante holte ihre Brille hervor, die sie aus einem Lederetui hervorzog. Das Etui machte beim Abziehen des Deckels „pff“, die Tante setzte die Brille auf, nicht der Beinchen wegen, sondern um den Stoff zu prüfen. Ich putzte meinen Kneifer – hm, hm, ich mußte doch der Tante behilflich sein!
Stöße von flachen Paketen warfen die Fräuleins in Schwarz klatschend auf die Theke und entrollten sie zu Streifen Seide in allen möglichen Farben. Dabei priesen sie in überschwenglicher Weise die Ware: „Prima, prima, das beste auf dem Markt, leitest Fäschen, englisch, fabelhafte Verarbeitung, Frau Bankier Safe (sprich: Säw) nahm zehn Meter für eine Robe, doppelte Breite, mit Selfkante, gut zu verarbeiten und haltbar, Sie glauben es nicht, gnädige Frau!“ Immer neue Pakete wurden aufgerollt. Ein Meer von Farben ergoß sich über die Theke. Die Tante war in fieberhafter Tätigkeit, ihr sonst
Hermann Harry Schmitz: Buch der Katastrophen. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1916, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz-Buch_der_Katastrophen-1916.djvu/046&oldid=- (Version vom 1.8.2018)