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und wird auch wohl bis zu meinem Ende derselbe bleiben. Wenn ich im Bette liege, ist mir leidlich wohl; bin ich aber aufgestanden, so ist mein Zustand ein wahrhaft trostloser. Die kleinste Durchsicht von Papieren erschöpft mich dann bis zur Ohnmacht, und ich frage mich immerdar, wozu es führen kann, daß ein solcher Zustand so lange anhält. Doch, schweigen wir von diesen Jämmerlichkeiten! Daß Sie so oft an bedenklicher Krankheit leiden, betrübt mich unendlich, und wenn ich den vielfachen Wirrwarr des Lebens ansehe, mir die Millionen von Unglücklichen und Elenden vorstelle, dann wird alles Vertrauen auf Schicksal, Vorsehung und jene unendliche Liebe, von denen die Frommen immer wahrsagen, verdächtig und zweifelhaft. So wie die Naturforschung gedeiht und sich immer mehr entwickelt, wie Maschinen und Fabriken sich immer mehr ausbilden, Telegraphen bis zum Mährchenhaften überhand nehmen, Feste und Lustbarkeiten, Gesang und Virtuosität sich immer mehr ausbreiten, so wächst gegenüber Barbarei, Armuth, nothwendige und doch überflüssige oder unzulängliche Armenvereine, so entstehen für den Staat unendliche Ausgaben (sic!) und unzulängliche, sich widersprechende Ausgaben und Bedürfnisse, so daß ich mich in meiner kranken Einsamkeit oft fragen muß, wohin denn alle diese Uebelstände, diese Noth, Unvernunft, Verschwendung und Geiz künftig einmal führen soll. Es wird für Europa ein so trostloser Zustand eintreten, wie er in Asien war und die gesegneten Länder dort verwüstete und Menschen arm machte. Das ist, werden Sie sagen, eine schwarze Ansicht unserer künftigen Geschichte. Sie können aber daraus meine Seelenstimmung beurtheilen und sehen vielleicht alles anders an. Da meine Geschwister nun schon längst gestorben sind, fehlt es mir an mitempfindender Freundschaft; und von meiner Familie muß ich klagen, daß ich mich ihnen auch nicht vertrauen konnte. Denn mein Bruder[1] brach ein jedes Gespräch, in welchem ich mich ihm erklären wollte, auf eine wahrhaft grausame Art ab, und zur Schwester hatte ich schon längst alles Vertrauen verloren, denn ich glaube nicht, daß sich irgend ein Mensch so undankbar gegen mich betragen hat. Ich war zuletzt so mit ihr gespannt, daß ich ihr nichts sagen mochte und sie mir noch weniger etwas von ihren Lebensumständen erklärte und entdeckte. Sie sehen, Geliebte! wie viel Elend, Schmerz, Trauer und Gram ich in meinem langen Leben durchgekämpft und verschwiegen habe. Freilich fand ich in einer Freundin, wie Henriette war, vielen und erfreulichen Ersatz; aber nun ich diese und meine Tochter Dorothea auch verloren habe, quält mich die herbeste Einsamkeit um so mehr, und ich hoffe, Sie nehmen diese herzlichsten Eröffnungen gütig und freundlich auf.

Ich erscheine den allermeisten Menschen als ein froher und selbst glücklicher Mann, und meine wahre Trostlosigkeit besteht darin, daß ich mich keinem Menschen recht offenherzig habe entdecken können. Sie sind, so wie Henriette, eine der


  1. Tiecks Bruder, der anerkannt tüchtige, aber charakterschwache Bildhauer Christian Friedrich Tieck, war in seinem 75. Lebensjahre am 12. Mai 1851 in Not und Elend in Berlin gestorben. Vgl. Köpke a. a. O. II 137 und Wilhelm Bernhardi, Allgemeine deutsche Biographie XXXVIII 251. Tiecks Schwester Sophie, als romantische Dichterin nicht ganz unbekannt, war bereits am 12. Oktober 1833 in ihrem 59. Lebensjahre zu Reval einem Nervenschlag erlegen. In erster Ehe mit August Ferdinand Bernhardi, dem Jugendfreund ihres Bruders Ludwig, verheiratet, wurde sie nach erfolgter Scheidung im Jahre 1810 als Gattin des estländischen Barons Karl Gregor von Knorring ihren Brüdern mit der Zeit immer fremder. Vgl. M. Breuer, Sophie Bernhardi geb. Tieck, eine romantische Dichterin (Borna-Leipzig 1914, 1–13).