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1870.

Sonntag, 17. Juli.

Nach vier Jahren ist es Zeit, das Kriegstagebuch wieder aufzumachen. Am Donnerstag, 14. Juli, wollten wir abends ½7 Uhr nach Badenweiler abreisen, Koffer und alles steht gepackt; ich nehme von Kohlschütter[1] Abschied; als ich von ihm komme, um auf das Rathaus zur Schlußabteilungssitzung[2] zu gehen, werden Extrablätter verkauft. Es ist die Depesche über die Emser Affäre zwischen dem König von Preußen und Benedetti. Ich las sie und sagte mir sofort, daß es nun wohl mit der Reise vorbei sein dürfte. Pfotenhauer dringt zwar in mich, zu gehen, wenigstens auf ein paar Wochen, und wenn nicht nach Baden, so doch nach Schlesien. Ich lehne ab. Familienrat mit Marie, welche beistimmt[3]. Dort ist schon alles zur Aufnahme der Großmama vorbereitet. Ich gehe nach Haus und verkünde den Wechsel der Szene; allgemeine Bestürzung, doch Einverständnis, daß für den Augenblick nicht abzureisen – weiteres vielmehr abzuwarten sei: es wird also noch nicht wieder ausgepackt.

Freitag vergeht ohne Näheres. Sonnabend früh Extrablatt 2. Am 15. ist in Paris die Kriegserklärung beschlossen worden. Am 16. ergeht Mobilmachungsordre für das 12. Armeekorps. Der König von Bayern hat den casus foederis anerkannt und die Mobilmachungsordre unterzeichnet. Über französische Truppenbewegungen nur spärliche Nachrichten; doch heißt es, daß Elsaß und Lothringen voll Truppen bereits strotzt. Wohin wird der erste Offensivstoß gehen? Nach Rheinpreußen oder südlicher herein? In letzterer Beziehung fehlt es noch an der französischen Kriegserklärung an Baden, Württemberg, Bayern. Heute sollen die Truppendurchzüge von Schlesien her beginnen.

In Leipzig Studentendemonstrationen gegen die Sächsische Zeitung[4]. Die öffentliche Meinung spricht sich allgemein dahin aus, daß König Wilhelm nicht anders, als er getan, handeln konnte. Der Bundesrat ist gestern zusammengetreten, der Reichstag auf den 19. einberufen, die formelle Kriegserklärung bis gestern noch nicht nach Berlin gelangt.


  1. Kohlschütter, Ernst Volkmar, Dr., Konsistorialrat und Superintendent; Mitglied der Schuldeputation.
  2. Auch die Ratsferien sollten beginnen. Die 1. Ratsabteilung hielt regelmäßig Montag und Donnerstag ½11 Uhr Sitzung, die 2. Mittwoch und Sonnabend 11 Uhr; Plenarsitzung war Dienstag 5 Uhr.
  3. Familienrat im Heime von Peschels Schwägerin, Räcknitzstraße 14.
  4. Dadurch, daß auch die Südstaaten, besonders Bayern, den Bündnisfall auf Grund der mit Bismarck geschlossenen Verträge anerkannt hatten, war die französisch-preußische Angelegenheit zu einer französisch-deutschen geworden. Anderer Ansicht waren gewisse Kreise in Leipzig. Hier hatte die partikularistisch, preußenfeindlich eingestellte Sächsische Zeitung in mehreren Artikeln offen die Meinung ausgesprochen, daß die Frage der spanischen Thronfolge eines Hohenzollern mit der deutschen Nation nicht das Geringste zu tun habe; daß es Wahnsinn sei, von dem deutschen Volke zu verlangen, für das Selbstbestimmungsrecht der Spanier mit Blut und Leben einzutreten, während sein eigenes Selbstbestimmungsrecht unter den „Blutlachen von Sadowa“ begraben liege (Anspielung auf die preußischen Annexionen von 1866). Scharf zog das Blatt über die bisherige Eroberungspolitik Preußen her, „das die blutgetränkte Spitze seiner Bajonette allen Nachbarn entgegenstreckt“. Könne man es Frankreich verdenken, wenn es Garantien für die Zukunft fordere, und „müssen denn die Sachsen sich auch totschießen lassen“ für diesen rein französisch-preußischen Streit? Im besonderen waren die Angriffe gerichtet gegen den Führer der Preußenfreunde und der Leipziger nationalliberalen Partei, Professor Biedermann, dessen Gefolgschaft vor allem unter den Studenten mit erregten Demonstrationen gegen den Redakteur Obermüller antwortete, bis dieser schließlich von der Staatsanwaltschaft in Haft genommen wurde und die Zeitung ihr Erscheinen einstellte. (Näheres darüber Dresdner Anzeiger, Wissenschaftliche Beilage, 7. Jahrg., Nr. 36.)
Empfohlene Zitierweise:
Erwin Heyne (Hrsg.): Kriegstage in Dresden 1866 und 1870. i. A. des Verein für Geschichte Dresdens, Dresden 1933, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Heft31VereinGeschichteDresden1933.pdf/78&oldid=- (Version vom 31.5.2024)