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klarer sehen will, und ungerechte Urteile austeilt, wenn schließlich die Anderen die Verteidigungsmöglichkeit verloren haben. Wagner hat z. B. die Urteile über seinen Kollegen Reissiger fast alle erst nach dessen Tode geschrieben. Es fällt uns dabei ein Satz aus dem schon erwähnten Briefe des Oboisten Hiebendahl ein, welcher ehrlich schreibt: „Bedauerlich erscheint es immer wieder, auf Kosten Toter spätere Leistungen zu illustrieren und dadurch jene herunterzusetzen.“ Das Allerschlimmste aber ist, daß dann die Schriftsteller unbekümmert alles vom „Meister“ übernehmen, auch in noch aufgebauschteren Formen. Liebte Wagner schon selbst die Superlative, so geraten seine blinden Verehrer dazu in einen hämischen Ton. Dabei stehen ihnen im Falle Reissiger nicht einmal Tatsachen zur Verfügung, sondern alles, was gegen denselben vorgebracht wird, beruht auf Vermutungen und Anekdoten. Wir werden einzelne Fälle besprechen.

Es muß auffallen, daß Reissiger als Mensch und Künstler in der ziemlich umfangreichen Literatur, welche wir aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Dresden haben, immer als vornehmer, edelgesinnter, gerechter, dabei liebenswürdiger, herzlicher, solider Charakter gezeichnet ist. Nur von der Wagnerschen Seite wird ihm ein Zug von Verstellung und Falschheit angedichtet. Wagner war ein Kämpfer und vermutete – sicher behaupten konnte er es selbst nie – immer in Reissiger einen Gegner seiner künstlerischen Anschauungen. Hierin täuschte sich Wagner. Wohl waren Wagner und Reissiger menschlich und künstlerisch stark verschiedene Charaktere. Wagner, der große Tragiker, Reissiger der heitere Lebenskünstler, der Humor als Weltanschauung besaß, bilden Gegensätze, die zu heftigen Zusammenstößen hätten führen können, wenn eben nicht immer die besonnene Lebenskunst des älteren Reissiger das elementare, spontane Verhalten des Stürmers und Drängers Wagner, welcher er ja in der Dresdner Zeit war, durch ihre abwartende Ruhe ausgeglichen hätte. Wer aber nicht zu Wagners damals natürlicherweise noch etwas grellfarbener Fahne mit Begeisterung schwur, der galt gleich als Feind. Daß es noch eine Mittelgattung von Menschen geben kann, die zunächst Ruhe bewahren, wenn es anderswo gärt, und dies sogar pflichtmäßig tun müssen, selbst wenn sie Interesse für den Anderen haben, das verstehen kühne Neuerer nicht. Wagner selbst war noch nicht zu voller Klarheit über sein Wollen gelangt. Erst nach den vierziger Jahren, also nach Dresden, erschienen seine ästhetischen Schriften, in denen er sich und der Welt Rechenschaft gibt, aus denen erst die richtige Deutlichkeit über die Stellungnahme zu seiner Kunst hervorbricht. Das sei auch bedacht, wenn man die Verdammungsurteile liest, die Wagner über die Dresdener Musikkritiker fällt. Sie standen einem noch unfertigen Prozeß gegenüber, den sie aber schon für beendet nehmen sollten, obwohl der Erreger selbst noch keinen festen Weg zum Ende gefunden hatte. Wenn man gelegentlich heute noch der falschen Anschauung, bei Wagners Kunstwerk Text und Musik jedes für sich zu beurteilen, begegnet, während es gerade als Gesamterscheinung gewürdigt werden will, so braucht man sich bei der großen Neuheit für die damaligen Kritiker nicht zu wundern, wenn sie nicht gleich die richtige Einstellung trafen.

Reissiger war nun nicht der Philister, als den man ihn gern hinstellt; als Mensch schon gar nicht, infolge seiner lebenslustigen „jovialen“ Art,