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dem Inhaber den Vorteil, von dem anstrengenden Kurrendesingen[1] in den Straßen befreit zu sein und dafür mehr Zeit für die Studien zu behalten. Der andere Ratsdiskantist zu Reissigers Zeit war Stallbaum, der spätere bekannte Rektor der Thomana. Noch eines Ereignisses muß ferner gedacht werden, das auch auf Reissigers sonst sehr heiteres Gemüt einen tiefen Eindruck gemacht haben wird. Er erlebte gerade als Thomasschüler die Völkerschlacht bei Leipzig. Die Schule sollte in ein Lazarett verwandelt werden. Rektor Rost wandte sich deshalb mit der Bitte um Schutz an den russischen Generalgouverneur, den Fürsten Repnin. Diese Bitte wurde auch gewährt. Aus Dankbarkeit huldigte Rost dem Fürsten in einer Dichtung, welche Schicht komponierte. Dieser Gesang wurde dann vom Thomanerchor dem Beschützer feierlich dargebracht. Überhaupt war Reissigers Kinder- und Jugendzeit, also die Zeit, in welcher das Gemüt am empfänglichsten ist, eine vaterländisch ereignisreiche. Er erlebte die Jahre des gehobenen Nationalgefühls, und der Erfolg der Befreiungslieder Arndts, Körners, Schenckendorfs, Rückerts wird auf den dereinstigen Liederkomponisten anregend gewirkt haben.

Reissigers musikalische Begabung war nach den ersten Jahren zu auffallend geworden, um von einem Manne wie Schicht nicht erkannt zu werden. Nachdem Reissiger zum Altsolosänger aufgerückt war, wurde Schicht mehr auf ihn aufmerksam und bot ihm freien Klavierunterricht an. Wie erstaunte er aber, als er hörte, daß Reissiger sich während der Freistunden der Schule heimlich auch schon mit Musiktheorie befaßt hatte. Er hatte sich Türks „Anweisung zum Generalbaẞspielen“ verschafft, welche er bis ins spätere Leben in ständigem Gebrauche hatte, und sie lenkte sein Denken und Trachten der Musik immer mehr zu. Alle Regeln erschienen ihm dank seiner Begabung so leicht, daß er sich 1816 eigenhändig die oben zitierten Sätze aus Goethes „Wilhelm Meister“ in das Buch schrieb. Außerdem wird er beim Vater während der Ferien manchmal einen verstohlenen Blick in Kirnbergers „Kunst des reinen Satzes“ oder vielleicht gar Marpurgs „Abhandlung von der Fuge“ geworfen haben, denn diese Werke bevorzugte Türk beim Unterricht, und der Vater Reissiger wird sie in seinem Besitze gehabt haben. Schicht gab ihm nun auch nebenher manche Unterweisung in Komposition, so daß Reissiger, als er 1816 Präfekt einer Chorabteilung geworden war, und damit das Recht erlangt hatte, dem Chore eine eigene Motette vorzulegen, schon recht talentierte Proben abgeben konnte, die der Chor in der Sonnabendmotette aufführte. Dies alles geschah aber noch ohne die Absicht, sich der Musik einmal ganz zu widmen. Mancher Seelenkampf wird sich indessen in der Brust des jungen, bereits aufgeführten Tonsetzers abgespielt haben, zumal sich in den letzten Schuljahren sein musikalischer Gesichtskreis noch erweitern konnte. Er gehörte nämlich zu den auserwählten Sängern des Chores, welche im Abonnementkonzert des Gewandhauses mitwirken durften, und dabei lernte er nun auch weltliche Musik kennen.

Bald kam das Jahr 1818, wo er das Gymnasium verlassen konnte. Wie er sich in den Schuldisziplinen bewährt hatte, bezeugt das vorliegende, von Rost unterschriebene Abgangszeugnis, in welchem es u. a. heißt: „A magna enim contentione, qua literarum studia puer persequebatur, adolescens factus


  1. Die wöchentlich dreimalige Currende bestand noch bis 1837.