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in einem Kantorhause geboren, in einem Kirchenchor erzogen, konnte das natürlich seine Einwirkung auf ihn nicht verfehlen. War aber bereits den Klassikern, die Reissiger vorwiegend hörte, in der Kirchenmusik ein gewisser faustisch tiefsinniger Grundzug abhanden gekommen, so erhielt auch beim Epigonen das metaphysische Bedürfnis einen mehr naiv-frommen Ausdruck. Seine Weltanschauung war abgeschlossen, wozu sein heiteres, genuẞfreudiges Temperament beitrug (Humor als Weltanschauung). Wir verweisen hier auch auf das früher über Reissigers Stellung zur Religion Gesagte. Einige Werke, bei denen der naive Ausdruck so recht am Platze ist, sind denn auch als echte Meisterwerke anzusprechen, z. B. der Weihnachtschor: Es ist ein Ros' entsprungen (F-Dur), den heute noch alle Kirchenchöre singen[1]. Fast mystisch wirkt der Gang der Harmonie bei der Stelle, „und hatt' ein Blümlein 'bracht“ (D-Moll, C-Dur, G-Dur, Tp., D., (D) D).

Auch in den kirchlichen Sätzen ist Reissigers Stimmführungskunst zu bewundern. Das Vermeiden aller Unebenheiten, im Verein mit reinen Harmoniewirkungen, ruft Erinnerungen an Palestrina wach. Das ist nicht übertrieben. Wir brauchen uns nur des lehrreichen Umganges mit dem Palestrinabiographen Baini in Rom und der dortigen Pflege dieses Meisters zu erinnern.

Auch war ein ebener Satz mit wenig Melodiesprüngen, Läufern und langsamen Harmoniewechseln ein Erfordernis, welches die Akustik der Dresdner Katholischen Hofkirche, für welche die meisten Kirchenwerke Reissigers geschrieben sind, stellte. Die bewegten Violinpassagen und Modulationen eines Mozart ergeben z. B. in diesen Räumen eine kleine Klangverwirrung.

Andere, nicht direkt für diese Kirche geschriebene Chöre zeigen wieder den gewiegten Kontrapunktiker der Bach-Schule. (Was betrübst du dich, meine Seele? Sechsstimmige Motette.) Das kompositorische Rüstzeug handhabte Reissiger ganz vorzüglich. Kanonische Führungen, doppelter Kontrapunkt, Fugen standen ihm jederzeit zur Verfügung. Als Studienmaterial wären manche Reissigersche Kompositionen daher sehr wohl zu empfehlen.

Besondere Erwähnung verdienen die Orchestermessen. In ihnen wandelt Reissiger in klassischen Bahnen, in der bereits angedeuteten Art; also manchmal mit weltlichen Anklängen. Bis an die tiefsten Tiefen des Textes geht er nicht heran. Die Reissiger-Messen dürften immerhin zu den besten zeitgenössischen Werken dieser Art gehört haben. Weithin ging der Ruf derselben, daß sogar Berlioz in Paris Interesse bekam, sie zu hören. Einzelne Chorstellen haben breitausladenden, wuchtigen Charakter (z. B. die Gloriastelle der As-Dur-Messe und das Sanktus der H-Moll-Messe). Melodisch sind sie natürlich bei einem um thematische Erfindung nie verlegenen Tonsetzer alle, selbst die Credostellen, die infolge des abstrakten Inhalts die


  1. Er wurde im Nachlasse gefunden, war aber vorher schon einmal in der A. M. Z. 1840 als Faksimile erschienen. Die Redaktion richtete, um bekannte zeitgenössische Tonsetzer zu ehren, an Mendelssohn, Meyerbeer, Reissiger und Spohr die Bitte, in dem Jahrgang eine Originalkomposition zum Abdruck bringen zu dürfen, R. machte sich durch den genannten Chor tatsächlich Ehre. Er hat ihn sonst nie veröffentlicht, Max Friedländer nahm ihn in das Kaiserliederbuch für gemischten Chor (1915) auf.