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Wir betrachten zuerst die Lieder etwas näher. Daß Reissiger vor allem Liederkomponist war, das allein schon ist kennzeichnend für sein Deutschtum; denn andere Völker haben die Gattung Lied nicht. In seinen Liedern ist auch der Mischstil am wenigsten ausgeprägt. Hier überwiegt als Grundton die deutsche, gemütvolle Herzlichkeit. Die für sich stehenden Lieder (im Gegensatz zu den Liedern und Arien der Opern) zeigen keine italienischen Verschnörkelungen oder etwa rhythmische Besonderheiten. Der Text wird einfach deklamiert, nie ist eine Vergewaltigung desselben zu finden, wie überhaupt Reissiger äußerst gesanglich schreibt. Wir wissen, er war selbst Sänger.

In der Melodiebildung haben wir zwei Typen bei ihm zu unterscheiden. Lieder mit und ohne Chromatik. Beim chromatischen Typus geht die melodische Linie immer indirekt auf ihr Ziel los, das heißt: nach einigen ansteigenden diatonischen Melodieschritten wird kurz vor dem Ende der zweiten Zweitaktgruppe erst noch ein chromatischer, ein Leitton, eingeschoben, der dann bei der Nachahmung in den folgenden Gruppen dem ganzen Liede einen weichlichen, süßlichen Charakter verleiht[1]. Diese Lieder sind zu Reissigers Zeit die gangbarsten gewesen. Es war der mehr feminin gerichtete Geschmack des Vormärzpublikums, und Reissiger konnte ihm im Zeitalter der „Albumanie“ gleich hefteweise entgegenkommen, da es ihm ungemein leicht fiel, ihn zu befriedigen. Reissiger klagt einmal selbst, er habe leider viel zu viel Lieder komponiert, so daß er kaum noch Texte finde. Also wird er in der Textwahl oft nicht streng genug gewesen sein[2]. Diese Lieder sind nun mit der Zeit, für die sie geschrieben, vergangen. Der eingeschobene Leitton, der der Sentimentalität Vorschub leistet, war eine Verfallserscheinung.

Daß man diese Lieder vergessen hat und sie nur noch historisch betrachtet, ist nicht verwunderlich. Voltaire schreibt einmal, daß man gelöste Rätsel vergißt, dagegen ungelöste immer von neuem das Interesse peinigen. Die einfachen, ganz regelmäßig gebauten Lieder Reissigers (vom ersten Typus) gingen sofort ins Verständnis ein und erforderten kein tieferes, längeres Versenken, wie etwa Schumann oder gar Brahms. Wie man aber dabei auch einen Teil der wirklich guten Sachen vergessen konnte, das haben wir an anderer Stelle bereits eine Ungerechtigkeit der Geschichte bezeichnet. Wir kommen damit zum zweiten Typus der Reissigerschen Lieder. Bei ihm finden wir vorwiegend diatonische Melodiebildung, welche schon von selbst eine kraftvollere, männlichere Haltung bewirkt. Dazu kommen prägnante Rhythmen und eine herbere, oft überraschende Harmonik, die trotzdem nicht gesucht erscheint. Hier schwingt gesundes, deutsches Empfinden, im Gegensatz zu der etwas kränkelnden Empfindsamkeit der ersten Liedergruppe. Daß Reissiger auch der zweiten Art fähig war, ist der Beweis, daß dies der eigentliche Grundzug seines Gemütes war, welches nur durch die Beimengung eines gewissen Triebes, allen Menschen gerecht werden zu wollen, ihn auch dem ersten Typus huldigen ließ. Unserem Empfinden


  1. Die Chromatik war eine Zeiterscheinung. Spohr, von Mozart beeinflußt, verwendete sie häufig.
  2. Erst später (1839) schreibt er einmal an Breitkopf & Härtel (unveröfftl. Reissigeriana im Archiv der Firma), daß er jetzt vorsichtiger in der Wahl der Texte geworden ist.