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     Die Alte antwortete nicht darauf; sie kniff nur die Lippen zusammen und nickte wie zur Bestimmung. „Komm, komm!“ sagte sie dann. „Wie siehst du aus! Gleich werden sie da sein, dein Vater und deine neue Mutter!“ Damit zog sie das Kind in ihre Arme und strich und zupfte ihr Haar und Kleider zurecht. – „Nein, nein, Neschen! Du darfst nicht weinen; es soll eine gute Dame sein, und schön, Nesi; du siehst ja gern die schönen Leute!“

     In diesem Augenblick tönte das Rasseln eines Wagens von der Straße herauf. Das Kind zuckte zusammen; die Alte aber faßte es bei der Hand und zog es rasch mit sich aus dem Zimmer. – Sie kam noch eben früh genug, um den Wagen vorfahren zu sehen; die beiden Mägde hatten schon die Haustür aufgeschlagen.

     Das Wort der alten Dienerin schien sich zu bestätigen. Von einem etwa vierzigjährigen Manne, in dessen ernsten Zügen man Nesis Vater leicht erkannte, wurde eine junge, schöne Frau aus dem Wagen gehoben. Ihr Haar und ihre Augen waren fast so dunkel wie die des Kindes, dessen Stiefmutter sie geworden war; ja man hätte sie, flüchtig angesehen, für die rechte halten können, wäre sie dazu nicht zu jung gewesen. Sie grüßte freundlich, während ihre Augen wir suchend umherblickten; aber ihr Mann führte sie rasch ins Haus und in das untere Zimmer, wo sie von dem frischen Rosenduft empfangen wurde.

     „Hier werden wir zusammen leben“, sagte er, indem er sie in einen weichen Sessel niederdrückte, „verlaß dies Zimmer nicht, ohne hier die erste Ruhe in denen neuen Heim gefunden zu haben!“

     Sie blickte innig zu ihm auf. „Aber du – willst du nicht bei mir bleiben?“

     „Ich hole dir das Beste von den Schätzen unseres Hauses.“

     „Ja, ja, Rudolf, deine Agnes! Wo war sie denn vorhin?“

     Er hatte das Zimmer schon verlassen. Den Augen des Vaters war es nicht entgangen, daß bei ihrer Ankunft Nesi sich hinter der alten Anne versteckt gehalten hatte; nun, da er sie wie verloren draußen auf dem Hausflur stehend fand, hob er sie auf beiden Armen in die Höhe und trug lie so in das Zimmer.

     „Und hier hast du die Nesi!“ sagte er und legte das Kind zu den Füßen der schönen Stiefmutter auf den Teppich; dann, als habe er weiteres zu besorgen, ging er hinaus; er wollte die beiden allein sich finden lassen.

     Nesi richtete sich langsam auf und stand nun schweigend vor der jungen Frau; beide sahen sich unsicher und prüfend in die Augen. Letztere, die wohl ein freundliches Entgegenkommen als selbstverständlich vorausgesetzt haben mochte, faßte endlich die Hände des Mädchens und sagte ernst: „Du weißt doch, daß ich jetzt deine Mutter bin, wollen wir uns nicht liebhaben, Agnes?“

     „Ich darf aber doch Mama sagen?“ fragte sie schüchtern.

     „Gewiß, Agnes; sag’ was du willst, Mama oder Mutter, wie es dir gefällt!“

     Das Kind sah verlegen zu ihr auf und erwiderte beklommen: „Mama könnte ich gut sagen!“

     Die junge Frau warf einen raschen Blick auf sie und heftete ihre dunklen Augen in die noch dunkleren des Kindes. „Mama; aber nicht Mutter?“ fragte sie.

     „Meine Mutter ist ja tot“, sagte Nesi leise. In unwillkürlicher Bewegung stießen die Hände der jungen Frau das Kind zurück; aber zog es gleich und heftig wieder an ihre Brust.

     „Nesi,“ sagte sie „Mutter und Mama ist ja dasselbe!“

     Nesi aber erwiderte nichts; sie hatte die Verstorbene immer nur Mutter genannt.