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Eltern Not, daß sie Schulden hätten und daß heute die Kuh gestürzt und geschlachtet sei, und daß ich mich fortgeschlichen habe an den stillen See, um die Kirche und das weiße Reh zu entzaubern und meinen Eltern zu helfen.

     Die Leute hörten mich lächelnd an. Als ich aber das weiße Reh näher ansah, da war es ein allerliebstes Mädchen in weißem Kleide mit braunen Rehaugen; die faßte mich an die Hand und sagte: „Du, Junge, du gefällst mir. Komm wir wollen spielen! Erst iß aber Torte!“

     Da wurde ich verlegen, und ich sah, wie ärmlich und wie schmutzig ich war. Ein freundlicher Herr aber trat an mich heran, fragte mich nach meinem Namen, und als ein anderer Herr, der mit Bergmeister angeredet wurde, mit ihm leise gesprochen hatte, klopfte er mich auf den Kopf und sagte: „Deinen Eltern soll geholfen werden. Iß und trinke etwas, und dann soll dich jemand nach Hause bringen, damit sich deine Eltern nicht ängstigen.“

     Alles, was mich umgab, war so prächtig und so neu für mich, daß ich aus meinem Traume nicht herauskam, und besonders gefiel mir die kleine verwunschene Prinzessin, die ich erlöst hatte.

     Ein Mann brachte mich an unsern Garten, und ohne daß es meine Eltern bemerkten, kroch ich wieder in mein Bett. Ich schlief tief in den Tag hinein.

     Als meine Eltern am Morgen bekümmert ihrer Arbeit nachgingen, trat der Fabrikbesitzer Herr B. bei ihnen ein. Er sprach davon, daß er von ihrer Not gehört habe und ihnen gern das nötige Geld vorschießen wolle; dann erzählte er, daß nötige Geld vorschießen wolle; dann erzählte er, daß in der Nacht der Grabensteiger am stillen See vorbeigekommen sei und mich dort schlafend gefunden habe. Da er mich nicht habe aufwecken können, hätte er mich zu ihnen in das nahegelegene Haus getragen, wo sie nach einer taufe fröhlich beisammen gewesen wären. Seine Frau habe eben auf dem Harmonium gespielt, und ich hätte, offenbar in der Meinung, die Kirche sei aus dem See aufgestiegen, das ganze Leid der Eltern mitgeteilt. Meine mutige Tat habe ihn so gerührt, daß er nun zur Hilfe da sei.

     Nach dem ersten Schrecken waren die Eltern überglücklich, und ich? Mich schickte Herr B. ins Gymnasium, und nachher heiratete ich das – weiße Reh.




Der Vogelfang.
Von Adolf Ey.


     Auf den Vogelfang bin ich nur zweimal mitgegangen. Es war Herbst. Leichter Nebel lag auf den Wiesen und Halden. Ein Tannenbäumchen wurde in die Erde gesteckt. Die Zweige waren mit Leimruten besetzt, dazu Vogelbeeren. Ein paar Käfige mit Lockvögeln standen unter der Fichte. Wir lagen eine Ecke davon regungslos auf der Lauer.

     Unsere Roller schlugen tapfer in die frische Herbstluft hinein. Da kam ein Schwarm, horchte und setzte sich auf die Leimruten, die mit ihnen auf den Boden fielen.

     Wie die armen Finken da zappelten! Wie sie mit der Rute an den Zehen aufflatterten und immer wieder zurückfielen!

     Meine Kameraden hatten sie aber schon gefaßt, und da saßen die Wildlinge in den engen Käfigen und stießen mit den Köpfchen gegen die Sprossen. Ich bin nie wieder mitgegangen.

     Einmal hat mich mein Onkel, ein Revierförster in Lautenthal mit in den Dohnenstieg genommen. Wenn ich an den Herbstmorgen denke, klingt mir immer der Anfang von Freiligraths schönstem politischen Gedicht in den Ohren:

O stille graue frühe!
Die Blätter flüstern sacht.
Der Hirsch hat seine Kühe.
Zum Waldbrand schon gebracht.

     Solch ein Morgen im Harz! Und nun der Donnerstieg mitten in dem jungen Wald. Ein langer, schmaler Gang den sanften Abhang hinauf. Und überall hängen die krummgebogenen Sprengel, darin die Schleifchen von Pferdehaar und rote Vogelbeeren zum Locken.

     Die ersten Sonnenstrahlen fielen in die Spalte zwischen den Fichten. Und da baumelten nun die Krammetsvögel und die anderen, die ich so gern singen hörte. Ja, wenn das Köpfchen in der Schleife steckte, dann war das Tierchen still, aber wie manches zappelte mit gebrochenem Beinchen oder verrenktem Flügel! Mein Onkel machte auch sie mit schnellem Griff still und steckte sie in die Jagdtasche. Es konnte ja kein Unrecht sein, da es mein Onkel tat, aber der Abschen ist mir seit dem Tage gegen den Dohnenstieg im Herzen geblieben.

     Tage der Kindheit, wie fern und doch wie nah.


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Schaltjahr 1924. Piepersche Buchdruckerei, Clausthal 1923, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1924_037.png&oldid=- (Version vom 11.4.2019)