Seite:Hans Bötticher Ein jeder lebts 136.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Hans Bötticher (Joachim Ringelnatz): Ein jeder lebt’s

schrie jemand so gräßlich, so gräßlich –. Andex sah unbeirrt, geschäftlich auf das blutige Zahnfleisch. Er spürte kein Mitleid angesichts dieser vorübergehenden heilsamen Schmerzen, sondern drückte den Unterkiefer des Schreienden fest und gleichgültig nieder wie eine Türklinke. Aber er litt unter den quäkenden, quälenden Worten des neben ihm stehenden Chefs: Hörr Andöx, göfälligst dö Zungö runtördrücken. Hörr Andöx göfälligst dö drittö Feilö. Oh, sind Sö ungöschickt! Andörö Zangö! – Dieser schiefköpfige Zahntechniker, dieser bodenlos eitle, erbärmliche Wurm.

Da war es, als schritte, mit schöner hoher Stirn, ganz langsam, sanft und schweigsam die Mutter vorüber, und Michel, der in Erinnerung an die Sprechweise des Herrn Kästner noch unwillkürlich die Lippen komisch häßlich verzogen hielt, ward jählings von peinlicher Sehnsucht nach der früh Verstorbenen übermannt. Auch ein kleines Aquarellbild über einem orangefarbenen, spitzenbehangenen Sofa tauchte auf und wies das Porträt eines schwermütigen Mannes. Und als Tante Gerold darauf hindeutete und seufzend sagte: Dein guter, schlichter Vater; sein letzter, besorgter Wunsch galt dir, Michel. Da rief der Geist des Herrn Andex vor Mitgefühl überschäumend: Vater, sei unbekümmert; ich blieb immer ehrlich, so hart mir’s oft ging, und nun bin ich ja glücklich. Ich habe eine Mühle geerbt, die 40000 Mark wert ist – und Tante Gerold trug die Lilabluse, darüber den prächtigen Granatschmuck von Kaiser Wilhelm.

Empfohlene Zitierweise:
Hans Bötticher (Joachim Ringelnatz): Ein jeder lebt’s. München: Albert Langen, 1913, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hans_B%C3%B6tticher_Ein_jeder_lebts_136.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)