Seite:Hans Bötticher Ein jeder lebts 111.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Hans Bötticher (Joachim Ringelnatz): Ein jeder lebt’s

Es verhielt sich nicht so, daß dem Aktuar die wahre Gesinnung seines Fürsten entging. Auch täuschten sich alle, so die Meinung hegten, der Rentmeister wäre in seine Akten verliebt und gegen alles andere gleichgültig.

In der späten stillen Arbeitszeit nach dem Abendbrot, wenn kein zweiter zugegen war, welcher der Beobachtung bedurfte oder Beobachtung fürchten ließ, geschah es bisweilen, daß etwas im Innern des Aktuars aufstand und ganz leise, allmählich lauter, zuletzt gewaltig an die Wände einer vom Leben umhärteten, liebefremden Seele klopfte.

Der einsame Mann blätterte, zur Erholung, in den ehrwürdigen schweinsledergebundenen Akten der Malteser-Ritter, in den Journalen, Urbarien und Schöppenbüchern, freute sich oder erstaunte aufrichtig über die vorteilhafte Genauigkeit, mit der sie geführt waren, über die sauberen, ziervoll verschnörkelten Handschriften der emsigen Mönche und über das vortreffliche Lumpenpapier. Dann schüttelte er, mühsam entziffernd und in rührend ungeschickt verhehlter Halbwissenheit gelegentlich sein Haupt wegen der närrischen Orthographie oder der geschwollenen Titulaturen. Und begrub die Papiere in das Fach PX Numero so und so viel und las ein anderes Heft.

Acta in Untersuchungs-Sachen wegen dem am 8. Januar 1797 im Backofen totgefundenen Hospitaliten Johann George Guettler.

Der Archivar schob das Buch hart von sich und murmelte halblaut: „Es ist kein Herz darin.“


Empfohlene Zitierweise:
Hans Bötticher (Joachim Ringelnatz): Ein jeder lebt’s. München: Albert Langen, 1913, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hans_B%C3%B6tticher_Ein_jeder_lebts_111.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)