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erlassenenen Vorschriften über die Beschaffenheit bezw. auch die Benutzung von Wohnungen („Wohnungs-Ordnungen“) auf mehr als 250.[1] Die ersten Verordnungen dieser Art bezogen sich meist nur auf die Wohnverhältnisse der Einlogierer, das sog. Schlafstellenwesen. Seitdem ist man aber vielfach weiter gegangen und hat auch die Wohnverhältnisse der übrigen Bevölkerung, zum mindesten die der in bestimmten Wohnungsgrössenklassen wohnenden Mietbevölkerung in die Regelung einbezogen. Als Ziel wurde dabei entweder nur die Verbesserung oder im Notfalle die Räumung ungesunder Wohnungen oder zugleich auch die Verhütung des Eintretens von Wohnungsüberfüllung verfolgt. Was in den Wohnungsordnungen zu dem letzteren Zweck gefordert wird, geht aber, abgesehen von der Trennung der Geschlechter, fast nirgends über die hygienischen Mindestmasse von 3–4 qm Bodenfläche und 10 cbm Luftraum in den Schlafzimmern für die erwachsene Person hinaus.

Praktische Bedeutung erlangen die Vorschriften über die Beschaffenheit und die Benutzung der Wohnungen erst durch die gleichzeitige Einführung einer Wohnungsaufsicht. Regelmässig gehen daher der Erlass von Wohnungsordnungen und die Einrichtung einer Wohnungs-Inspektion Hand in Hand. Die Städte, welche Einlogierer- oder Wohnungsordnungen aufstellten, haben gewöhnlich auch einen Wohnungsaufsichtsdienst eingeführt, wenn auch in verschiedenem Umfange. Ebenso ist in denjenigen Bundesstaaten, welche den Gemeinden von bestimmter Grösse den Erlass von Wohnungsordnungen vorgeschrieben haben, meist zugleich die Einführung einer Wohnungsaufsicht angeordnet worden. In Deutschland haben zuerst Hessen 1893 bezw. 1902 sowie Hamburg 1898 die Wohnungsinspektion für das gesamte Staatsgebiet obligatorisch gemacht. In Sachsen hat das allgemeine Baugesetz von 1900 die Einführung der Wohnungsinspektion in den grösseren Gemeinden veranlasst, in Württemberg besteht sie seit 1901 obligatorisch für alle Gemeinden über 10 000 Einwohner, in Bayern müssen seit dem gleichen Jahre in allen grösseren Orten Wohnungskommissionen gebildet werden. Um eine Zentralisation der Wohnungsinspektion herbeizuführen, hat Hessen 1902 die Stelle eines Landeswohnungsinspektors geschaffen; Bayern ist 1906 diesem Vorgehen durch Einrichtung einer Zentralwohnungsinspektion gefolgt. In Preussen fehlen staatliche Einrichtungen und Vorschriften auf diesem Gebiete noch, doch sieht der Anfang 1913 veröffentlichte preussische Wohnungsgesetzentwurf den obligatorischen Erlass der Wohnungsordnungen und die Einführung einer Wohnungsaufsicht für Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern vor.[2]

Durch die Massnahmen der Wohnungspflege sowie durch das von der gemeinnützigen und öffentlichen Bautätigkeit Geleistete sind sicherlich die Wohnungszustände an vielen Orten in günstigem Sinne beeinflusst worden. Es würde indessen viel zu weit gehen, wenn man annehmen wollte, dass die allgemeine Besserung der Wohnungsverhältnisse, die sich in den deutschen Grossstädten im letzten Menschenalter offenbar vollzogen hat und die vor allem in dem Rückgang der auf ein Zimmer durchschnittlich entfallenden Bewohnerzahl zum Ausdruck kommt, – die Wohndichte kann ja trotz zunehmender Besiedlungsdichte abnehmen –, allein oder auch nur hauptsächlich auf die Eingriffe der öffentlichen Gewalt zurückzuführen sei. Die Wohnungspflege vermag wohl zu verhindern, dass einzelne Familien hinter dem von der Gesamtbevölkerung erreichten Durchschnittsniveau des Wohnens zurückbleiben, dieses Niveau aber aus eigener Kraft immer weiter zu heben, ist sie nicht imstande. Dazu sind stärkere Kräfte nötig. Diese können nur aus dem allgemeinen Aufsteigen der Einkommensverhältnisse und der Lebenshaltung in der Bevölkerung entspringen. Und in der Tat hat ja die wirtschaftliche Entwickelung in den letzten Jahrzehnten ein ungemein rasches Steigen der Löhne bewirkt. In diesem allgemeinen Aufrücken der Bevölkerung aus den unteren in die mittleren Einkommensstufen ist die Hauptursache für die Besserung der Wohnungsverhältnisse zu erblicken, die sich in der letzten Zeit vollzogen hat, und ebenso ist auf das weitere Anhalten dieser Aufwärtsbewegung hauptsächlich die Hoffnung zu gründen, dass auch in Zukunft auf eine weitere Hebung der Wohnungszustände gerechnet werden darf. Die Tatsache,


  1. W. v. Kalkstein, Die im Deutschen Reiche erlassenen Vorschriften über Benutzung und über Beschaffenheit der Wohnungen. Bremen 1907.
  2. Über die Organisation der Wohnungsinspektion, ihre Revisionstätigkeit und ihre Erfolge vgl. meine Wohnungsfrage Bd. II, S. 35ff.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/83&oldid=- (Version vom 13.11.2021)