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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

seine Vorherrschaft in den englischen Städten nicht behördlichen Bestimmungen, sondern den Wohnsitten der Bevölkerung, milderen Bauvorschriften und vor allem auch einer anderen, mehr dezentralisierten Siedelungsweise, die zur Voraussetzung wieder gute Verkehrseinrichtungen und eine bestimmte Tageseinteilung hat.

Über die Vorzüge und Nachteile des deutschen städtischen Wohnungswesens im Vergleich mit dem englischen ist viel gestritten worden. Sowohl in gesundheitlicher, wie in sittlicher und auch in wirtschaftlicher und sozialpolitischer Hinsicht wurde die Mietkaserne häufig allgemein als die minderwertige Wohnform hingestellt. In wirtschaftlicher Hinsicht wurde sie angeklagt, zu einer Verteuerung der Wohnungen zu führen. „Je höher der Bau, je höher die Mieten“ (Eberstadt). In sozialpolitischer Beziehung hielt man ihr beispielsweise folgendes Sündenregister vor:[1] „Die Erschwerung der Erwerbung eines eigenen Heims, die Loslösung der Menschen vom heimatlichen Boden, die dringende Gefahr der Ausbildung der Hausherren zu Haustyrannen, die Entwicklung des Häuserbesitzes zum Spekulationsbesitz und infolgedessen einerseits eine ungesunde Entwickelung des Baugewerbes und andererseits die Tendenz zu fortgesetzter Mietsteigerung, um zu dem entsprechend höher kapitalisierten Preise verkaufen zu können, und in enger Verbindung damit die stete Gefahr der Kündigung und zahllose Umzüge mit ihren wirtschaftlichen Störungen und Schädigungen.“

Zu diesen Anklagen sei hier nur soviel bemerkt : In hygienischer und sittlicher Beziehung braucht das Wohnen im grossen Miethaus, insbesondere bei entsprechenden Bestimmungen der Bauordnung über Strassenbreite, Gebäudehöhe, Abschluss der Wohnungen, Grösse der Höfe, Abortanlagen usw. durchaus nicht ungünstigere Wirkungen nach sich zu ziehen als das im Kleinhaus. In wirtschaftlicher Hinsicht ist der Hochbau ohne Zweifel die überlegene Bauweise; aus verschiedenen exakten Berechnungen, die hierüber vorliegen,[2] ergibt sich, dass im grossen Etagenhaus die Wohnungen wesentlich billiger hergestellt werden können als im Kleinhaus. Das muss aber unter sonst gleichen Umständen dazu führen, dass der Übergang zum Hochbau die Wohnungsmieten ermässigt oder doch wenigstens ihr Steigen verlangsamt. Von den sozialpolitischen Bedenken gegen das Massenmiethaus ist richtig, dass das Kleinhaus den Hauserwerb erleichtert; unrichtig dagegen ist die Behauptung, dass das Kleinhaus die Grundstücksspekulation eindämme. Die Erfahrungen in Nordamerika lehren gerade das Gegenteil.[3] Im ganzen ist zu dem Streit über Kleinhaus und Mietkaserne zu sagen, dass jede der beiden Wohnformen ihre eigenartigen Vorzüge und Nachteile hat und dass daher keine von beiden als das absolute, unter allen Umständen zu erstrebende Ideal gelten kann. Von den Vorwürfen, die speziell in Deutschland mit Vorliebe gegen die Mietkaserne erhoben werden, fallen viele nicht dem System der Mietkaserne an sich zur Last, sondern sie beziehen sich auf Erscheinungen, die überall hervortreten, wo die grossstädtischen Menschenanhäufungen über ein gewisses Mass hinausgehen. Das erhellt schon daraus, dass ganz ähnliche Anklagen, wie sie in Deutschland dem Etagenhaus widerfahren, in England gegen das Cottagesystem erhoben werden.[4] „Die Beschaffenheit unserer englischen Städte zeigt, dass das Vorherrschen der Cottages und die Abwesenheit der Mietkasernen nicht genügt, um eine Stadt wohnlich zu machen,“ schrieb der englische Wohnungspolitiker Horsfall 1906 in der „Zeitschrift für Wohnungswesen.“ Englische und holländische Wohnungspolitiker suchen daher in ihren Ländern die Einführung des Etagenhauses nach deutschem Muster zu fördern.

In Deutschland dagegen hat die ausgesprochene Vorliebe für das Kleinhaus, die in den Kreisen der Verwaltungsbeamten, Wohnungspolitiker usw. vielfach herrscht, die Folge gehabt, dass man an vielen Orten durch Vorschriften in der Bauordnung auf eine grössere Verbreitung des Flachbaues


  1. Adickes im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Artikel „Stadterweiterungen“, 3. Aufl., Bd. 7, S. 783.
  2. Siehe z. B. die Angaben bei Freudenberg, Wohnungsfrage und Bauordnung, Karlsruhe 1908, S. 21/22.
  3. Vgl. hierzu den Aufsatz von W. M. Schultz in den Preussischen Jahrbüchern, 131. Bd., S. 223ff.
  4. Das zeigt z. B. in sehr drastischer Weise die Gegenüberstellung der Äusserungen deutscher und englischer Wohnungspolitiker, die A. Voigt in der „Zeitschrift für Sozialwissenschaft“, Neue Folge, 1. Jahrg. (1910) S. 397ff. vorgenommen hat.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/78&oldid=- (Version vom 13.11.2021)