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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

erworben haben, die Witwenrente, wenn sie dauernd invalid geworden sind. Vorausgesetzt ist hierbei, dass sie nicht mehr durch eine ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit noch bis zu einem Drittel dessen erwerben können, was andere, körperlich und geistig gesunde Frauen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung, in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen. Man wird zugeben, dass dies sehr hart sein kann, insbesondere dort, wo der ortsübliche Tagelohn sehr gering ist, besonders wenn man keine Altersgrenze einführt. Witwenrente erhält auch die Witwe, die nicht dauernd invalide ist, aber während 26 Wochen ununterbrochen invalide gewesen ist, oder die nach Wegfall des Krankengeldes invalide ist, für die weitere Dauer der Invalidität (§ 1258 Abs.3). Die Witwenrente soll 30% der Invalidenrente betragen, dazu tritt der erwähnte Reichszuschuss in Höhe von 50 Mark. Waisenrente erhalten die hinterlassenen Kinder verstorbener Versicherter bis zum 15. Lebensjahre. Kinder weiblicher Versicherter erhalten die Waisenrente nur, wenn sie auch vaterlos sind. Witwerrente erhält nach dem Tode einer versicherten weiblichen Person, die den Lebensunterhalt ihrer Familie wegen Erwerbsunfähigkeit des Mannes ganz überwiegend aus ihrem Arbeitsverdienste bestritten hat, bis zum Wegfall der Bedürftigkeit der hinterlassene Witwer. Unter den gleichen Voraussetzungen erhalten ihre Kinder die Waisenrente. Endlich wird Kindern einer weiblichen Versicherten, deren Ehemann sich der häuslichen Gemeinschaft und der Unterhaltungspflicht ohne gesetzlichen Grund entzogen hat, Waisenrente bis zum 15. Lebensjahre in Aussicht gestellt. Die Waisenrente soll für ein Kind 15%, für jedes weitere 2½% der Invalidenversicherung betragen. Dazu kommt ein Reichszuschuss von 25 Mark für jede Waisenrente. Alle diese Bestimmungen sind ganz ausserordentlich scharf kritisiert worden. Dass die Leistungen alles in allem genommen nicht sehr hoch sind, ist wohl richtig. Allein das ist vielleicht der am wenigsten bedenklichste Punkt, denn die Sozialversicherung hat überall die Tendenz, die Leistungen zu erhöhen, und bei der absoluten Neuheit der Hinterbliebenenversicherung im deutschen, aber auch beim Fehlen im ausländischen Rechtssystem durfte man nicht allzu kühn vorgehen. Die finanziellen Folgen wären unabsehbar. Nur ist zu wünschen, dass die Leistungen der Hinterbliebenenversicherung diejenige der Armenpflege quantitativ übersteigen sollen.

VI. Allen Zweigen der Versicherung Gemeinsames.

Alle Spezialregelungen überwölbt schliesslich das jetzt nicht mehr geringe Gemeinsame, das alle Versicherungszweige umschliesst. Besonders enthält das erste Buch der R.V.O. den Kern des Neuen, das für die ganze R.V.O. gilt. Das organisatorische Problem steht hier im Mittelpunkt. Fand keine Verschmelzung der jetzt selbständigen Versicherungszweige statt, so fragt er sich, was die R.V.O. sonst erstrebt. Sie bezeichnet ihr Ziel in der Begründung als „gegenseitige Annäherung“ jener Zweige und sieht als Mittel an die Schaffung eines ihnen allen gemeinsamen Bindegliedes und zwar an der Stelle, wo ein solches der Erfahrung gemäss am meisten not tut, d. h. in der unteren örtlichen Instanz.

Aber auch insofern wirkt die Idee der Vereinheitlichung aus, als in einer symmetrisch übereinander gestellten Weise die Spruchinstanzen sich aufbauen. Dem Versicherungsamt werden die Oberversicherungsämter übergeordnet, die bisher mit etwas veränderter Verfassung als Schiedsgerichte bekannt waren, und über diesen stehen dann das Reichsversicherungsamt und die Landesversicherungsämter, für deren Entlastung in weitgehendem Masse gesorgt sein soll. Soweit die R.V.O. sonst eine Vereinheitlichung vorsieht, ist sie lediglich formaler Natur: Es werden Bestimmungen, die in den verschiedenen Zweigen der Arbeiterversicherung zu finden waren, einheitlich formuliert und gemeinsam zusammengefasst; es trifft dies insbesondere zu auf die rechtliche Ausgestaltung der Beziehungen der Versicherungsträger zueinander und zu anderen Verpflichteten.

Die Versicherungsämter haben die Geschäfte der Reichsversicherung vorzunehmen und Auskunft zu erteilen. Ihnen obliegen aber für die einzelnen Zweige der Reichsversicherung die Aufgaben einer unteren Spruch-, Beschluss- und Aufsichtsbehörde. Diese überreiche Funktion ist es, gegen die Bedenken geltend gemacht worden sind. An sich ist gegen dieses soziale Unteramt nichts einzuwenden, besonders, soweit es die bisherigen Funktionen der unteren Verwaltungsbehörde in sich aufnimmt. Auf dem Versicherungsamt ruht aber nicht, wie man auf den ersten Blick annehmen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/66&oldid=- (Version vom 7.11.2021)