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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Neben diesen Mindest- oder Regelleistungen gibt es satzungsmässige Mehrleistungen. Die Satzung kann weiblichen Versicherten, die mindestens sechs Monate der Kasse angehören, wegen einer durch Schwangerschaft verursachten Arbeitsunfähigkeit als Unterstützung den Betrag des Krankengeldes bis zur Gesamtdauer von sechs Wochen zubilligen (Schwangerengeld). Sie kann auch bestimmen, dass die Dauer dieser Schwangerschaftsunterstützung um die Zeit verkürzt wird, während deren Wochengeld vor der Niederkunft gewährt wird. Die Satzung kann endlich bestimmen, dass die erforderlichen Hebammendienste und ärztliche Behandlung der Schwangerschaftsbeschwerden drei Wochen lang zu gewähren sind. Man hat die viel weitergehende Forderung aufgestellt, dass Schwangerschaftsunterstützung zu gewähren sei sechs Wochen vor der Geburt und Wöchnerinnenunterstützung 6 Wochen nach der Geburt in voller Höhe des Krankengeldes und freie Gewährung der Hebammendienste und ärztlicher Hülfe bei Schwangerschaftsbeschwerden in obligatorischer Weise, nicht nur bei satzungsmässiger Festsetzung. Eine derartige Forderung musste aber an den finanziellen Verhältnissen der Kassen vorläufig ein Hemmnis finden.

Eine weitere Mehrleistung stellt die Familienhilfe dar. Familienmitglieder, die nicht versicherungspflichtig sind, können Krankenpflege, Ehefrauen Wöchnerinnenhülfe erhalten. Sterbegeld kann zu bis ⅔ des Mitgliedersterbegeldes an Ehegatten und bis zu ½ an Kinder gewährt werden. Vor allem aber: die Krankenhilfe kann, wie auch bisher, ein volles Jahr dauern; das Krankengeld kann bis zu ¾ des Grundlohnes betragen, auch an Sonn- und Feiertagen, selbst während der Karenztage gezahlt werden; das Hausgeld darf erhöht, Genesende können ein Jahr lang in einem besonderen Heim untergebracht werden. Auch grössere Heilmittel sind vorgesehen – doch alles nur, wenn die Satzung es bestimmt.

„Gemeinsame Vorschriften“, die sich auf den Beginn, das Ruhen usw. der Versicherung beziehen, sind in den §§ 206 bis 224 gruppiert. Es handelt sich hier um eine systematische Zusammenfassung schon bisher geltender Vorschriften des K.V.G., die bisher in diesem allzusehr zerstreut waren. Neu ist aber die Bestimmung des § 212, dass, wenn während der Dauer einer Krankheit das Kassenmitglied zu einer anderen Kasse übertritt, diese die weitere Leistung in dem für ihre Mitglieder durch die Satzung bestimmten Umfang zu übernehmen hat. Auf die Gesamtdauer der Unterstützung ist die Zeit der bereits genossenen Leistungen anzurechnen. Durch diese Vorschrift wird eine leidige Streitfrage über sogen. schwebende Unterstützungsansprüche ein für allemal ausgeräumt. Auch Abs. 2 des § 214 erledigt einen Streitpunkt. Jetzt ist nämlich Sterbegeld auch dann zu gewähren, wenn der Tod nach Ablauf der drei auf den Austritt aus der Kasse folgenden arbeitslosen Wochen eintritt, wenn die Krankenhilfe bis zum Tode geleistet worden ist. Endlich ist auch noch eine Neuregelung des Ruhens des Rechts auf Bezug der Krankenunterstützung hervorzuheben (§ 216). Solange der Berechtigte eine Freiheitsstrafe verbüsst oder in einem Arbeitshause oder in einer Besserungsanstalt untergebracht ist; solange der Berechtigte ohne Zustimmung des Kassenvorstandes im Auslande sich aufhält und diese Vorschrift nicht durch Beschluss des Bundesrats für bestimmte Grenzgebiete ausser Kraft gesetzt ist; solange der berechtigte Ausländer wegen Verurteilung in einem Strafverfahren aus dem Reich ausgewiesen ist, ruht das Recht auf Krankenhilfe.

3. Die äussere Verfassung der Krankenversicherung prägt sich darin aus, dass nur vier, nämlich die Orts-, Land-, Betriebs- und Innungskrankenkassen als Kassenformen hervorgehoben werden. Die knappschaftlichen Krankenkassen finden nur dadurch Erwähnung, dass der § 225 bestimmt, ihre Mitglieder seien nicht verpflichtet einer der bezeichneten Krankenkassen als Mitglieder anzugehören. Statt der Hilfskassen erfahren Ersatzkassen eine besondere Behandlung (§§ 503 bis 525). Man kann diese Materie nur im Zusammenhang mit dem Bestreben nach einer Zentralisation des Kassenwesens erörtern. Über die Zersplitterung, die heute herrscht, kann eine Meinungsverschiedenheit nicht bestehen. Die Durchführung der Krankenversicherung auf beruflicher Grundlage hat sich nicht bewährt. Man war davon ausgegangen, dass die verhältnismässige Gleichheit der Krankheitsgefahr und die leichtere Durchführbarkeit der Selbstverwaltung bei den nahen gegenseitigen Beziehungen zwischen den einzelnen Kassenmitgliedern und die zur Bekämpfung der Simulation unentbehrliche Kontrolle auf jene berufliche Grundlage hinweisen. Man kann der Begründung zur R.V.O. gerne zugeben, dass die damalige Organisation an sich wohl berechtigt war, dass erst die Erfahrung der späteren Zeit die Überspannung des richtigen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/49&oldid=- (Version vom 7.11.2021)