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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Rechtes in die Wege geleitet, wie sie ihres gleichen in keinem Kulturstaate der Welt findet. Zwar sind die Hoffnungen, welche manche Kreise auf die Vereinheitlichung aller Versicherungszweige gesetzt hatten, nicht erfüllt worden. Doch kann dies nicht als ein Schaden angesehen werden. Jene Reformer übersahen, dass es sich nicht bloss um eine zeitliche Aufeinanderfolge der bisherigen Arbeiterversicherungsgesetze handelt, welche eine innerlich zusammenhängende Gesamt-Gesetzgebung gehindert hatten; vielmehr lag das Hindernis an der inneren Verschiedenartigkeit der bisherigen Kranken-, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung. Bei der ersteren handelte es sich um relativ kurze, aber nicht unerhebliche Unterstützungsbeträge, bei der Unfall- und Invalidenversicherung dagegen um solche Leistungen, die viele Jahre, möglicherweise auch das ganze Leben hindurch zu zahlen sind, und deren kapitalisierter Wert ganz ausserordentlich hoch ist. Wenn demnach bei der Krankenversicherung nur vorübergehende Unterstützungsfälle in Betracht kommen sollen, so bei der Unfall- und Invalidenversicherung grundsätzlich längere Zeit dauernde. Auch die Entstehungsgeschichte der verschiedenen Zweige weist auf innere. Verschiedenheiten hin. Die Unfallversicherung ist aus der Notwendigkeit des genossenschaftlichen Zusammenschlusses der Unternehmer hervorgegangen, die ihrerseits haftpflichtig waren und in ihrer Verbindung das Risiko auf einen grösseren Kreis abwälzten. Die Berufsgenossenschaft ist also die Vereinigung der sich rückversichernden Unternehmer. Dagegen sind die Mitglieder der Kassen ausschliesslich die Arbeiter; der Unternehmer ist nur beitragspflichtig und hat einen gewissen Anteil an der Verwaltung. Bei der Alters- und Invalidenversicherung sind wieder ganz anders geartete Entstehungsgründe vorhanden, die von denen der Kranken- und Unfallversicherung abweichen. Ein weiterer innerer Scheidungsgrund zwischen den Versicherungszweigen besteht darin, dass die Vermögensmassen gänzlich voneinander abweichen; während die Krankenkassen kein nennenswertes Vermögen aufzuweisen haben, sind die Berufsgenossenschaften und die Invalidenversicherungsanstalten sehr kapitalkräftig und verwenden ihre grossen Bestände z. T. auf Unterstützung von Wohlfahrtseinrichtungen.

Wenn hiernach sowohl die geschichtliche Aufeinanderfolge der Gesetze, als auch die innere Verschiedenheit der Versicherungszweige einer vollkommenen Verschmelzung entgegenstanden, so hat die R.V.O. wenigstens eine Annäherung auf dem Gebiete versucht, das als das formale bezeichnet werden kann. In organisatorischer Hinsicht fehlte es nämlich an einer unteren Verwaltungsstelle, die gemeinsam alle Angelegenheiten des Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherungsrechtes bearbeitet hätte. Nur auf dem Gebiete der Invalidenversicherung waren sog. Rentenstellen geschaffen worden, während die Krankenkassen auch unter dem Zustande litten, dass die Entscheidungen in Krankenversicherungssachen je nach Lage der Dinge an zahlreiche Instanzen gingen. Durch die Einführung des Versicherungsamtes durch die Reichsversicherungsordnung (R.V.O.) hat sich dies vollkommen geändert. Zwar ist dieses Amt kein selbständiges im eigentlichen Sinne, sondern angegliedert an die untere Verwaltungsbehörde (auf dem Lande an das Landratsamt, in den Städten an das Bürgermeisteramt), aber es ist doch der soziale Unterbau der ganzen Reichsversicherung geworden. Das Versicherungsamt ist auch Aufsichtsbehörde erster Instanz in Krankenversicherungsachen; es gibt Rechtsauskunft und bietet den Berufsgenossenschaften und Versicherungsanstalten eine ganze Reihe von Hilfsleistungen, kurz, es ist die örtliche Grundlage des ganzen Gebäudes. Auf ihr hebt sich dann empor das Oberversicherungsamt, das sein Vorbild in den bisherigen Schiedsgerichten für Arbeiterversicherung findet, und darüber steht krönend das Reichsversicherungsamt, in dem, wie bisher, eine verwaltende und eine richterliche Tätigkeit nebeneinander hergehen.

Neben der organisatorischem Reform ist auch eine materielle in einem nicht zu unterschätzende Umfange vor sich gegangen. Zum erstenmal ist in der ganzen Kulturwelt der Versuch einer Hinterbliebenenversicherung gemacht worden. Witwen und Waisen werden versichert, nicht bloss mit Almosen versehen, wie bisher. Zwar kann man das, was diese Versicherung gewährleistet hat, nicht für ausreichend erachten, soweit es sich um die Höhe der Leistungen handelt. Aber derartige Gesetzeswerke tragen den Keim der Entwicklung in sich, und es ist kein Zweifel, dass über kurz oder lang auch hier die Renten und sonstigen Gewährungen weit über das Mass der Armenpflege hinausgehen werden. Auch die Invalidenversicherung ist nicht unverändert geblieben. Bemerkenswert ist insbesondere

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/45&oldid=- (Version vom 9.11.2021)