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um das reduzierte Flottenprogramm durchführen zu können. Im Wettbewerb um den politischen Einfluss in Korea verlor Japan daher bereits gewonnenes Terrain an China, das von dem jetzigen Präsidenten der Republik Juanschikai zielbewusst und geschickt vertreten wurde. Im Juli 1894 nahm deshalb die japanische Regierung den Kampf auf, obwohl die chinesische Nordflotte der ganzen maritimen Macht Japans an Gefechtswert der Schiffe überlegen war. Dennoch heftete sich der Sieg zu Wasser und zu Lande an die Fahnen des Inselreiches. Nicht nur die Vorherrschaft in Korea, sondern auch den Besitz der Insel Formosa und der Pescadoren und eine mit Russlands Hilfe schnell gezahlte Kriegsentschädigung von 300 Millionen Yen war die Beute des Siegers. Damit begann für das wirtschaftliche und politische Leben Japans eine neue Epoche. Das neu gewonnene Ansehen in der Welt, der eroberte Kolonialbesitz der durch Zuckerbau, Reisüberschuss, Teeexport und Kampferproduktion für den Weltmarkt wichtigen Insel Formosa und der Geldstrom, über den die Regierung verfügte, ermunterten die regsamen Teile der Bevölkerung zu waghalsigem Unternehmungsgeist und scharfer Konkurrenz mit den fortgeschrittensten Industrieländern. Die Regierung kam diesen Bestrebungen um so bereitwilliger entgegen, weil sie nach der bitteren Erfahrung der Intervention Deutschlands, Russlands und Frankreichs eine Verdoppelung des Heeres und der Flotte für notwendig hielt. Die Mittel dazu hoffte man aus der vermehrten Steuerkraft des Volkes ziehen zu können, sobald die „neue Industrie“ das Land wirtschaftlich den Grössenverhältnissen der Interventionsmächte näher gebracht haben würde. Als Hauptmittel dazu erschien die Eroberung des chinesischen Marktes und ein energischer Mitbewerb in der ganzen Welt. Durch Subventionen von Dampferlinien nach Amerika und Europa, Belebung des inneren Verkehrs mittels Bahnbauten und Dampferlinien, Unterstützung begehrenswerter industrieller Unternehmungen aus Staatsmitteln wollte man schnell vorwärts kommen. Um den Mitbewerb auf dem Weltmarkt zu fördern und die Beschaffung ausländischen Kapitals für staatliche und private Zwecke zu erleichtern, wurde durch den Grafen Matsukata 1897 die Goldwährung eingeführt, obwohl angesehene Wirtschaftspolitiker in der mit China gemeinsamen Silberbasis einen für die Erringung des Übergewichts im Güteraustausch mit dem volkreichen Nachbarreiche schätzenswerten Vorteil sahen. Die veränderte Lage spiegelt sich in den vermehrten Staatsausgaben. Sie erreichten schon 1896 bis 1897 168⅞ Millionen, das Jahr darauf 223⅔ Millionen, zwei Jahre später über 254 Millionen und im Jahre darauf (zur Jahrhundertwende) 292¾ Millionen. Da die Regierung während des dreivierteljährigen Feldzuges auf dem Kontinent den fehlenden Traindienst durch „Kriegskulis“ ersetzt hatte, so kehrten viele Tausende mit gesteigerten Ansprüchen an ihre Lebenshaltung und mit gehobenem Selbstgefühl in die Heimat zurück. Dort war zwar infolge der neuen Gründungen die Arbeitsgelegenheit vermehrt und der Tagelohn gestiegen; aber mindestens ebenso stark hatten sich auch die Lebensmittel verteuert und die gewohnten Bedürfnisse gesteigert. Seit dem Jahre 1897 hat auch Japan eine Arbeiterbewegung, die sich in Lohnkämpfen, Ausständen und Aufruhrszenen stärker bemerkbar macht als in Aussperrungen und Organisationen der Arbeitgeber. Besonders der erfolgreiche Streik der Maschinisten der grössten japanischen Eisenbahngesellschaft (Nippon Tetsudo Kaisha) im Februar 1898 hat dazu geführt, dass das englische Wort „strike“ auch im Japanischen ein jedermann geläufiges Lehnwort wurde und dass die Arbeiterfrage ein stehendes Kapitel in der öffentlichen Diskussion der Tageszeitungen und der national-ökonomischen Zeitschriften wurde. Der soziale Gedanke wurde durch japanische Gelehrte, die aus Deutschland zurückgekehrt waren, eifrig gepflegt, und aus Amerika brachten japanische Studenten und Arbeiter die Forderungen der „Knights of labour“ als Gegengift gegen den Egoismus des sich immer mehr ausbreitenden plutokratischen Unternehmertums. Solange, von der allgemeinen Hochkonjunktur des Weltmarktes begünstigt, der neue Aufschwung der Volkswirtschaft anhielt, bewahrte die japanische Regierung den Anfängen der Arbeiterbewegung gegenüber eine wohlwollende Neutralität. Es wurde sogar im Ministerium für Ackerbau und Handel ein Arbeiterschutzgesetzentwurf ausgearbeitet und nach wiederholten Revisionen durch die „Kommission zur Untersuchung des Fabrikwesens“ im November 1902 veröffentlicht; aber da sich das Unternehmertum sehr absprechend darüber äusserte und inzwischen andere politische Fragen die Aufmerksamkeit der Regierung ausschliesslich in Anspruch nahmen, so wurde polizeilich allen solchen den inneren Frieden gefährdenden Erörterungen gewaltsam ein Ende gemacht und die eben erst zu täglichem Erscheinen fortgeschrittene Zeitung „Arbeitswelt“ unterdrückt.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/392&oldid=- (Version vom 24.12.2021)