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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Die europäische Auffassung von der Bedeutung des verlorenen Krieges für die Zukunft der Türkei ist noch vor den endgültigen Friedensschlüssen einer interessanten Revision unterworfen worden. Nach der Schlacht bei Lüleburgas und noch im Januar 1913 neigte man in Europa vielfach zu der Ansicht, dass die völlige Auflösung des Osmanischen Reiches nahe bevorstehe. Und fast allgemein war die Überzeugung verbreitet, dass die Türkei bei Erörterung künftiger Balkanmöglichkeiten nicht mehr als ernster Faktor in Rechnung zu stellen sei. Die Stimmen, die so das Ende der europäischen Bedeutung des Osmanischen Reiches vorschnell proklamierten, sind seit dem Bekanntwerden der türkisch-bulgarischen Annäherung verstummt. Man zweifelt nicht mehr daran, dass die Türken als Verbündete Bulgariens bei der wohl allgemein für unvermeidlich gehaltenen neuen Auseinandersetzung auf dem Balkan ein entscheidendes Wort mitzusprechen haben werden. Diese Annahme beruht hauptsächlich auf der – zuerst vom Generalfeldmarschall v. d. Goltz nachdrücklich betonten – Tatsache, dass die militärische Macht der Türkei durch die grossen Gebietsverluste in Europa so gut wie gar nicht berührt wird. Die europäischen Bestandteile des osmanischen Heeres haben sich im Balkankrieg fast durchweg als äusserst unzuverlässig erwiesen. Was die Türken in militärischer Hinsicht geleistet haben – man denke an die tapfere Verteidigung von Adrianopel, Skutari und Janina, an die Teilerfolge der osmanischen Truppen in der fünftägigen Schlacht bei Lüleburgas und Wisa sowie an die erfolgreiche Abwehr der bulgarischen Angriffe auf die Tschataldschalinien – ist ausschliesslich auf das Konto der anatolischen Truppen zu setzen. In welchem Umfang die Anatolier, also die eigentlichen Türken, die Last des Krieges getragen haben, ergibt sich aus statistischen Angaben des deutschen Chefs der osmanischen Sanitätsverwaltung, Professor Wieting Pascha, über die Verluste der türkischen Ostarmee bis zum Waffenstillstand vom 3. Dezember 1912. Nach Wietings Angaben über die Verwundeten kamen auf 16 491 Türken nur 150 Armenier, 320 osmanische Griechen, 35 Israeliten, 25 osmanische Bulgaren, 2 Wallachen, 5 osmanische Serben. (Vergl. Feldmann, Kriegstage in Konstantinopel, S. 69.) Die Reorganisation der Armee auf Grund der im Kriege gemachten bitteren Erfahrungen ist bereits während des Waffenstillstands kräftig in Angriff genommen worden. Es war natürlich unmöglich, sie bis zum Wiederbeginn der Feindseligkeiten (3. Februar 1913) soweit zu fördern, dass die ersten entscheidenden Resultate des Krieges noch geändert werden konnten. Aber die Rückeroberung von Adrianopel ist nicht zuletzt als Folge der Kriegsbereitschaft des reorganisierten osmanischen Heeres zu betrachten.

In erster Linie muss der grosse Erfolg allerdings als Resultat der klugen allgemeinen Politik des am 23. Januar 1913 zur Macht zurückgekehrten jungtürkischen Regimes, dessen Verdienst übrigens auch die Aufstellung einer schlagfertigen Armee war, bezeichnet werden. Man kann den Jungtürken die Anerkennung nicht versagen, dass sie vom ersten Tage ihrer Rückkehr zur Staatsleitung an mit Ernst daran gegangen sind, frühere Fehler wieder gutzumachen und eine feste Grundlage für das schwierige Werk der Erneuerung des Osmanischen Reiches zu schaffen. Als wichtigsten Punkt ihres Programms, dessen Ausführung zuerst dem Marschall Mahmud Schewket Pascha und nach dessen Ermordung (11. Juni 1913) dem Prinzen Said Halim Pascha als Grosswesir anvertraut wurde, betrachteten die Jungtürken die Lösung der zwischen den Grossmächten und der Türkei schwebenden Fragen. Diese neue Aera der türkischen Auslandpolitik wurde durch die Entsendung des früheren Grosswesirs Hakki Pascha nach London (Februar 1913) eingeleitet. Ihr folgte Anfang März die Entsendung des früheren Finanzministers Dschawid Bej nach Berlin und Paris. Die Verhandlungen mit England waren im Mai soweit abgeschlossen, dass Sir Edward Grey am 29. Mai präzise Mitteilungen über die türkisch-englischen Vereinbarungen machen konnte. Die Grundlage für die Verhandlungen mit Frankreich bildete eine Liste von Forderungen verschiedener Art, die der französische Botschafter Bompard am 24. Februar der Pforte überreicht hatte. Die Verhandlungen führten zu bestimmten Abmachungen, die in der ersten Septemberhälfte von Dschawid Bej und dem französischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Pichon, in Paris paraphiert wurden. Anfang Oktober begannen in Konstantinopel entsprechende Verhandlungen mit Russland, an die sich die Berliner Verhandlungen Dschawid Bejs mit Deutschland anschlossen. Was die Pforte, ausser speziellen Konzessionen politischer, finanzieller oder allgemein wirtschaftlicher Art, von den Grossmächten erwartete, hatte sie bereits

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/361&oldid=- (Version vom 14.9.2022)