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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Dagegen gibt es keine Kaiserlichen Offiziere im Bundesheere (nur bei den Schutztruppen) und kein Reichskriegsministerium. Der Reichskanzler ist für die Durchführung des Militäretats aber verantwortlich.

4. Wehrsystem, Organisation und Gliederung des Heeres.

Die aufs innigste mit der Staatsverfassung zusammenhängende Deutsche Wehrverfassung beruht auf dem in den einfachsten Formen schon bei den alten Germanen üblichen, zuerst durch das Gesetz betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst vom 3. IX. 1814 in Preussen[1] dank vor allem Scharnhorst und Boyen wieder aufgenommenen, 1867 in wenig veränderter Form auf den Norddeutschen Bund ausgedehnten und für ganz Europa vorbildlich ausgebildeten System der allgemeinen Wehrpflicht (Artikel 59 der Reichsverfassung), das auf ethische Mächte gegründet ist. Leider ist diese bewährteste Unterlage für Deutschlands Stärke jahrelang nicht voll durchgeführt worden, nicht wir, die Franzosen waren ein Volk in Waffen geworden, obwohl unsere männliche Bevölkerung bis zum 45. Jahre fast doppelt so stark als die unseres westlichen Nachbars an Zahl ist. Deshalb ist der leitende Gedanke des neu bewilligten Heeresgesetzes vom 3. VII. 13 der Ausbau der allgemeinen Wehrpflicht nach dem Stande der Bevölkerung (1910: 64 925 993, heute etwa 67 Millionen). Es sollen künftig rund 63 000 Rekruten jährlich mehr eingezogen werden. Dadurch bleibt die Armee jung, und wir sind nicht genötigt, im Kriegsfalle ältere Jahrgänge, Männer mit Frau und Kind, sofort und in vorderster Linie an den Feind zu führen, während junge, diensttaugliche Mannschaft zurückbleibt und beim Eintritt der Gefahr erst ausgebildet wird. So war es bisher, wo aus finanziellen Gründen nur 70 v. H. der Tauglichen eingestellt wurden, nämlich rund 280 000 Rekruten jährlich, wodurch wir, abgesehen vom politisch Bedenklichen und auch Ungerechten immer mehr vom Begriff eines alle Kreise unseres immer wachsenden Volks umfassenden Volksheers uns entfernten. Während in Frankreich die allgemeine Wehrpflicht in grossem Stile ausgebaut worden war und bis an die äussersten Grenzen heute durchgeführt ist, von der Deutschland, trotz des neuen Heergesetzes, noch weit entfernt ist.

Die allgemeine Wehrpflicht ist für jeden wehrfähigen Deutschen im Frieden in der Dauer vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 45. Lebensjahr festgelegt und besteht aus der Dienst- (aktive oder bei der Fahne, Reserve- und Landwehr-), Ersatzreserve- und Landsturmpflicht. Im Kriegsfall gelten die Bestimmungen über die Dauer der Dienstpflicht nicht. Aber auch im Frieden gibt es für besondere Kategorien sowohl eine abgekürzte aktive, wie eine besondere (verlängerte) Dienstverpflichtung, und in gewissen Fällen ist eine Entlassung vor beendeter Dienstpflicht zulässig.

Die aktive Dienstpflicht beträgt seit 1893 für die Mannschaften der Kavallerie und reitenden Feldartillerie 3 Jahre, für alle übrigen Mannschaften 2 Jahre. Leute, die nach Gesundheit, Grösse und Kraft allen Anforderungen des Kriegsdienstes gewachsen sind, dienen dabei mit der Waffe, die übrigen ohne Waffe (als Krankenwärter, Oekonomiehandwerker, bei den Ersatzreserven), für welchen Dienst keine Körpergrösse vorgeschrieben ist. Auch Kleriker, die die höheren Weihen erhalten haben, dienen fortan ohne Waffe.

Für die Schutzgebiete ist das Wehrgesetz vom 22. VII. 13 massgebend. Alle Wehrpflichtigen werden in den alphabetischen und Restantenlisten geführt, wobei sich z. B. 1912 im ganzen 1 271 384 Mann ergaben. Davon wurden als unwürdig (Zuchthäusler) ausgeschlossen 826, als (dauernd) untauglich (wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen) ausgemustert 135 500. Dem Landsturm I. Aufgebots wurden zugewiesen 548 Taugliche (Überzählige nach dem 3. Konkurrenzjahr), 141 759 minder (bedingt)


  1. Nachdem vorher im sogen. „Krümpersystem“ die allgemeine Wehrpflicht nur unvollkommen durchgeführt werden konnte; denn dies unter dem Druck Napoleonscher Fremdherrschaft entstandene Wehrsystem gab nur eine Ausbildung ähnlich der der heutigen Ersatzreservisten. Aber auch 1870/1, wo wir eine Friedensstärke von 1,3 v. H. der Bevölkerung gehabt und das deutsche Feldheer dem auf dem Konskriptionssystem beruhenden französischen um ⅓ an Kopfzahl überlegen war, blieb die Armee an Zahl erheblich hinter der Stärke zurück, die sie bei wirklicher Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht in ganz Deutschland hätte besitzen müssen. Nur in den alten Preussischen Provinzen, wo von je 100 Einwohnern 3,22 Reservisten und Landwehrleute zu den Fahnen gerufen wurden, war das der Fall, in den neuen Provinzen waren es nur 1,5, in Hannover gar nur 1,1.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/303&oldid=- (Version vom 11.12.2021)