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bisher stockende Avancement wird durch das neueste Wehrgesetz belebt werden, und hierdurch wie durch bessere Befriedigung des Bildungsdranges werden hoffentlich die grosse Zahl von Lücken im Offizierkorps beseitigt werden. Auch ist zur Verbesserung des Unteroffizierersatzes, der durch die Entwicklung des deutschen Handels und der deutschen Industrie, die tüchtige Männer anzieht, schwierig geworden ist, im neuen Wehrgesetz eine Erhöhung der laufenden Zivilversorgungsentschädigung und der einmaligen Geldabfindung als wirksamer Anreiz für die Kapitulation vorgesehen.

Heute hat im Kriegsfall, der nur bei Bedrohung seiner Lebensfragen und Ehre noch denkbar ist, das ganze Volk bis zur Erschöpfung zu ringen. Bei nicht gealterten Kulturnationen wie dem Deutschen Volke müssen Blute der Kultur und kriegerische Kraft stets zusammengehen. Jede Krankheit der Nation, der grossen Mutter des Heeres, färbt zweifellos auf die Armee ab, eine unter allen Umständen rechtzeitig zu bannende grosse Gefahr.

Ihr vorzubeugen, gehört auch mit zu einer guten Friedensstrategie, d. h. Kriegsvorbereitung, die wieder ein Ausfluss der Politik ist. Sie soll alle für die Landesverteidigung in Betracht kommenden Möglichkeiten und Kriegsfälle berücksichtigen, in durchdachter und vollendeter Weise alles dazu Nötige, auch volkswirtschaftlich, bereitstellen. Hierbei kommen die Vervollkommnung der Finanz- und Volkswirtschaft, der sozialen Fürsorge, der Hygiene, die Fortschritte der Ernährungs- und Verpflegungsweise grosser Massen und die grossartige Entwicklung der gesamten Kriegstechnik, namentlich auch des Verkehrs-, Beobachtungs- und Nachrichtenwesens, und andere Faktoren dem tüchtigen Feldherrn und seinem Generalstab zu Hilfe, um ihre gegen 1870/71 bedeutend schwieriger gewordenen Aufgaben zu lösen. Die heute aufzubietenden fast 6 Millionen Streiter stellen ganz neue Anforderungen an die Führung, schon bei der Mobilmachung und Versammlung der Heere, dann bei der einheitlichen Leitung und Bewegung während der erheblich schwierig und verwickelter gewordenen Operationen und endlich bei der Erhaltung des kriegstüchtigen Zustandes des Volks in Waffen. Fehlt es an systematischer Vorbereitung im Frieden, so kann auch die beste Kriegsstrategie diesen Mangel nicht mehr ausgleichen und den Gegner in der Schlacht vernichten.

3. Rechtsquellen und staatsrechtliche Natur des Heeres.

Das Kriegswesen war eine der wichtigsten Voraussetzungen und treibenden Kräfte der Errichtung des Reiches, das mit dem Heere steht und fällt. Es unterliegt daher auch naturgemäss der Beaufsichtigung (nicht aber der Verwaltung) des Reiches und seiner Gesetzgebung. Die durch sie geschaffene Reichsverfassung[1] bildet deshalb die Rechtsquelle für die staatsrechtliche Natur des Heeres, besonders die Artikel 4, 8, 41 und dann der Abschnitt XI. „Reichskriegswesen“, (Artikel 57–68).

Artikel 63 trifft im besonderen nähere Bestimmung über die Ausübung der Beaufsichtigung und die staatsrechtliche Natur des Heeres. Danach ist die gesamte Landmacht ein einheitliches Heer. Es steht im Krieg und Frieden unter dem Oberbefehl des Kaisers, der als König von Preussen das Präsidium des zum Schutze des Bundesgebiets und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volks geschlossenen „ewigen Bundes“ ausübt, wie das Deutsche Reich in der durch das Gesetz vom 16. IV. 1871 eingeführten „Verfassungsurkunde“ genannt wird.

Zur Durchführung dieser Aufgaben bedarf das Reich der bewaffneten Macht. Die Natur dieses Bundesheeres ist infolge seiner geschichtlichen Entwickelung staatsrechtlich überaus verwickelt und vielfach umstritten. Indessen dürfte heute die Ansicht überwiegen, dass es sich, obwohl die Reichsverfassung von einem „Deutschen“ und „Reichsheere“ spricht, im Rechtssinn nicht um ein solches, sondern, dem Charakter des Reiches als eines Bundesstaats entsprechend, um ein Kontingentsheer handelt. Nach einer Denkschrift Bismarcks beseitigte die Verfassung


  1. Sie trat nach § 1 des Publikationsgesetzes an die Stelle der zwischen dem Norddeutschen Bunde und den Grossherzogtümern Baden und Hessen vereinbarten Verfassung des Deutschen Bundes von 1870, sowie den mit den Königreichen Bayern und Württemberg über den Beitritt zu dieser Verfassung geschlossenen Verträgen vom 23. und 25. XI. 1870.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/300&oldid=- (Version vom 11.12.2021)