Seite:Handbuch der Politik Band 3.pdf/299

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

abgesehen von der force noire in Marokko, Algerien usw.[1] Umsomehr hat Deutschland, dessen Boden seit der Völkerschlacht von Leipzig kein feindliches Heer mehr betreten hat und betreten darf, und das die Kultur der weissen Rasse in den Zukunftskämpfen mit zu erhalten hat, die Pflicht, den friedlichen Wettbewerb mit mächtigen Nationen um den Unterhalt seines Volks, wie den Anteil an den grossen Kulturaufgaben und -Gütern der Menschheit sich durch ein starkes Heer und eine wohlgerüstete Flotte zu ermöglichen. Wehr- und Volkskraft fallen zusammen, und ein Reich wie das deutsche, das durch die Armee geschaffen wurde, kann wie alle grossen Dinge – auch nur durch dieselbe Schöpferkraft erhalten bleiben.

Leider gibt es heute viele Momente, die uns vom Begriffe des Volksheeres als einer Erziehungsschule für alle Kreise unserer immer wachsenden Bevölkerung nicht nur entfernen, sondern sogar die Armee schwächen. Nicht nur verhindern volkswirtschaftliche Gründe eine Steigerung der Heeresstärke entsprechend der Volksvermehrung, sondern bei den engen Beziehungen zwischen der politischen und sozialen Entwicklung des Staatslebens zum Heerwesen hat auch der Volks- und Zeitgeist einen grossen Einfluss, und nur, wenn er gesund ist, kann es eine gute Armee geben. Ist die Nation blühend und kernig, zugleich opferfreudig, so wird auch ihr liebstes Kind, das Volksheer, gedeihen. Zumal in Zeiten langen „bewaffneten“ Friedens, wo die Kriegsgewohnheit und Kriegsbegeisterung immer mehr verloren gehen und Kriegsmüdigkeit, Weichlichkeit, Üppigkeit des an Kulturgenüssen überreichen materiellen Lebens, sowie eine Art Feminismus an ihre Stelle treten; dadurch einerseits, dann aber auch durch das Wohnungs- und Fabrikselend den kriegerischen Geist und die körperliche Tüchtigkeit des Volkes herabsetzen und besorgniserregend weite Kreise der Nation erfüllen. Der ungünstige Einfluss des grossstädtischen, besonders des industriellen Lebens – jeder 5. Deutsche ist Grossstädter – wirkt auf die Wehrfähigkeit, so dass z. B. in Berlin, wo die Abnahme am stärksten ist, die Militärtauglichkeit 1908 nur noch 34 v. H. (gegen 59 v. H. der Gesamtheit der Städte über 50 000 Einwohner und 66,7 v. H. im Elsass) der Geborenen betrug. 1912 waren von den endgültig Abgefertigten nur 55,5 v. H. der in der Stadt Geborenen tauglich, sofern sie Land- und Forstwirtschaft trieben, nur 50,75 v. H., wenn sie andere Berufe ausübten. Aber auch die sonst günstigere Bedingungen liefernde Bevölkerung der auf dem Lande Geborenen, selbst der rein landwirtschaftlichen Volksmassen, leidet an Unterernährung, Landflucht, Mangel an Mutter- und Säuglingsschutz und verliert so an Tauglichkeit (heute nur noch 60 v. H. und überhaupt sind tauglich nur 53 v. H. der Abgefertigten). Dazu kommt der Fall der Geburtenziffer aus wirtschaftlichen Gründen, d. h. die absichtliche Beschränkung der Kinderzahl (Neumalthusianismus), nicht etwa die Abnahme der physiologischen Fruchtbarkeit. Von 1906–11 ist sie um 4,6 vom Tausend geringer geworden und auf 29,5 gesunken. Seither ist der Rückgang des Ueberschusses noch grösser geworden, obwohl er noch immer die Zahl der Todesfälle überwiegt und unsere Bevölkerung jährlich noch um 885 000 Köpfe = 1,38 v. H. wächst, so dass das Heer heute noch Menschenmaterial genug hat. Auch das recht zweifelhafte Einjährig-Freiwilligen-Privileg, das hauptsächlich den besitzenden Klassen zugute kommt, ohne doch, wenigstens in der bei uns üblichen Form der Dienstleistung, einen guten Nachwuchs an Reserveoffizieren zu gewährleisten, und das, wie alles sogen. „Berechtigungswesen“, zudem erhebliche pädagogische und soziale Nachteile hat, durchbricht den Charakter des Volksheeres. Die Franzosen haben es längst mit Recht abgeschafft.

Beseitigung vor allem des Wohnungselendes ferner eine gute, staatlich beeinflusste Jugenderziehung in Haus und Schule, die die männliche und weibliche Jugend – auch auf letztere kommt für die Wehrfähigkeit ungemein viel an – sittlich, geistig und körperlich stählt, ihr den Begriff von Pflicht und Autorität, dann Herzensbildung und brüderliche Gesinnung beibringt, dem Kastenhochmut entgegentritt und reinen opferfreudigen und wahrhaft vaterländischen Geist pflegt, der das Ganze, das Volk und den Staat, nicht die Partei und die Klasse vor Augen hat, zugleich durch gesunde Leibesübungen, massvollen Sport und wirkliche Körperkultur der Rassenentartung vorbeugt, sind dringend vonnöten. Namentlich auch der unehelichen Kinder, deren Zahl bedenklich steigt, muss man sich früh annehmen, ihre Verwahrlosung durch amtlich zu berufene freiwillige Vormundschaft verhüten und die hier wie in keinem anderen Staate grosse Sterblichkeit zu verhindern suchen.

Nicht minder wichtig ist eine bessere Fürsorge für die alten Soldaten und deren Hinterbliebene, eine Pietät, an der es uns, besonders bei den Altpensionären und Veteranen, noch sehr fehlt. Wird diese Ehrenpflicht der Nation weiter verabsäumt, so darf man nicht hoffen, dass die waffenfähigen Leute freudig in den Kampf ziehen werden und innere Zufriedenheit im Volke herrscht. Es leidet aber auch der Offizier- und der Unteroffizierersatz, die beide eine Lebensfrage für das Heer sind. Besonders der Offizier, soll er seine geschichtlich gewordene Stellung behaupten, muss sich aus den besten Kreisen der Nation ergänzen und durch gute Bezüge und ausreichende Versorgung, nicht blos durch Pension, sondern später auch in würdigen Zivilstellungen, vor Not geschützt sein. Auch sein militärisches Wirken ist ja in den meisten Fällen, um das Offizierkorps frisch für seine schweren Aufgaben zu erhalten, nur ein Durchgangsberuf. Möglichst früh hat deshalb ein Ausmerzen ungeeigneter Elemente zu geschehen, schon um ihnen auch noch rechtzeitig die Wahl eines passenden Berufs zu ermöglichen. Ferner darf der Offizier nicht zu lange in untergeordneten Stellen, namentlich der aufreibenden des Kompagnie-Chefs weilen und dort seine Kraft vorzeitig verbrauchen, wie andererseits auch nur in der Praxis reich erfahrene Männer in die leitenden Führerstellen gelangen dürfen, so dass nicht aus übertriebener Sorge vor Überalterung fähige Offiziere jüngeren, aber nur mehr oder minder theoretisch, nicht durch die Front praktisch gebildeten Kameraden weichen müssen. Altersgrenzen sind vom Übel, es kann nur individuell verfahren werden. Das


  1. Schon Friedrich der Grosse hat bei nur 2½ Millionen Einwohnern des damaligen Preussens eine wesentlich stärkere Armee verhältnismässig unterhalten, als das heutige Deutsche Reich. Ebenso waren die Aufgebote des halb ohnmächtigen Preussen 1813 weit zahlreicher und ermöglichten, einen Napoleon niederzuringen
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/299&oldid=- (Version vom 11.12.2021)