Diverse: Handbuch der Politik – Band 3 | |
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aus betrachtet werden. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Erfolge der Freiheitsstrafe in ihrer heutigen Gestalt nicht voll befriedigen.
I. Die D. als eine zur Strafe erfolgende Verschickung von Verbrechern in fremde Länder hat sowohl im Altertum als in neuerer Zeit ausgedehnte Anwendung gefunden. Die Verbannung war im Altertum teils ein Mittel, sich politischer Verbrecher zu entledigen, teils diente sie zur Verwirklichung eines Standesstrafrechts zugunsten der Angehörigen höherer Stände und ist deshalb ganz ungeeignet, zum Ausgangspunkt für die Bewertung eines modernen Strafmittels gemacht zu werden. In der neueren Zeit aber war es hauptsächlich der Mangel an geeigneten Strafanstalten im Inlande, der zur D. als Notbehelf greifen liess; eine Ausnahme machte Russland nur insofern, als dort die Zwangsansiedelung in Sibirien zugleich eine Schutzwehr gegen das zukünftige Vordringen östlicher Völker herstellen sollte. Durch die seit dem Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts eingetretene Zunahme der freiwilligen Einwanderung in Sibirien ist jenes Bedürfnis weggefallen; ein Ukas v. 12/25. Juni 1900 hat die D. als Strafe aufgehoben England ist zum Aufgeben der D. nach Nordamerika durch den Widerstand der Vereinigten Staaten gezwungen worden. Wenn die praktischen Engländer nach weiteren Erfahrungen in Australien es trotz ihres Kolonialbesitzes vorgezogen haben, auf die D. zu verzichten und die übrigen Freiheitsstrafen zu verbessern sowie die sonstigen Mittel der Verbrechensbekämpfung auszubauen, so haben sie damit anderen Völkern eine eindringliche Lehre gegeben. In Frankreich hat das letzte Menschenalter nach Aufwand ausserordentlich grosser Kosten die Überzeugung reifen lassen, dass die D. den gehegten Erwartungen nicht entspricht und dass es besser sei, die Menschen nicht soweit kommen zu lassen, bis sie zur D. reif sind. Spanien verlor durch die Wegnahme von Kuba und der Philippinen seine Hauptgebiete für Strafkolonien; nach dem Verkaufe der Marianen an das Deutsche Reich blieb nur noch Nordafrika, welches bei der Nähe des Mutterlandes kaum als Kolonialland betrachtet werden kann. Überall lieferte das Bestehen von Strafkolonien einen Grund, die Gefängnisverbesserung hinauszuschieben, dagegen schuf der Wegfall der Strafkolonien einen Antrieb zur Verbesserung des heimischen Strafvollzugs. Die Strafkolonien erweisen sich geschichtlich als vorübergehender Notbehelf und zugleich als Hemmschuh der Entwickelung.
Im Deutschen Reiche ist die Frage vielfach von Gefängnisgesellschaften verhandelt worden, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde sie dadurch, wenigstens vorübergehend, brennend, dass sich um das Jahr 1901 innerhalb des deutschen Kolonial-Bundes ein Deportations-Ausschuss bildete, der 1906 eine Petition an den deutschen Reichstag betr. Einführung der fakultativen Strafverschickung richtete.[1] Der Reichstag hat diese Petition der Regierung als Material überwiesen.[2] Ein erneuter Antrag des Abg. v. Liebert wurde abgelehnt.
II. Philosophisch betrachtet soll die Strafe immer ein empfindliches Übel sein. Nach den absoluten (Gerechtigkeits-) Theorien wird gestraft, weil ein Verbrechen begangen worden ist; punitur, quia peccatum est. Die Strafe soll also ein verdientes Übel sein. Nach dem Zweck der Strafe wird nicht gefragt, weil man über ihre Wirkung hinwegsieht. Von dieser abstrakten Grundlage aus lässt sich jede Art von Übel als Strafmittel rechtfertigen, sobald es durch Gesetz für eine Gruppe von Handlungen gedroht wird, welche ihrer Art und Schwere nach dieses Übel als verdient erscheinen lassen. Auch die D. kann so als ein verdientes Übel hingestellt werden, z. B. für gewohnheitsmässige, gewerbsmässige, Rohheits-Delikte. Jedoch fehlt für die Gestaltung und Dauer hier dem Gesetzgeber wie dem Richter noch mehr als bei irgend einer anderen Strafart ein objektiver Massstab. Der Richter kann sich nicht einmal durch Anschauung der Vollzugsbedingungen einen subjektiven Massstab bilden; ebenso ergeht es den Personen, welche bei der Gesetzgebung mitwirken. Richter und Gesetzgeber wären in Ermangelung jeden Massstabes von vornherein genötigt, bei der Bestimmung des Umfangs der Strafe darauf zu verzichten, dass sie dem Merkmal „verdient“ entspricht. Vom Standpunkte der Gerechtigkeitstheorie aus, mag man die Gerechtigkeit als rechtliche, moralische oder göttliche verstehen, ist die D. als Strafmittel hiernach unbrauchbar.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/273&oldid=- (Version vom 14.9.2022)