Seite:Handbuch der Politik Band 3.pdf/25

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

den individuellen, in persönlichen Beziehungen zum Arbeitgeber sich ausprägenden, sondern einen gesellschaftlichen Charakter. Denn er ist durchweg so organisiert, dass die technischen und ökonomischen Bedingungen der Arbeitsleistung teils für die gesamte Arbeiterschaft des Betriebes, teils für grosse Gruppen derselben einheitliche sind. Die Betriebsmittel, die Wohlfahrtseinrichtungen, die der Sicherheit, der Ordnung, der Disziplin dienenden Anordnungen, kurz alle Einrichtungen und Vorkehrungen, die den Gesamtapparat des Betriebes ausmachen und seinen ordnungsmässigen Gang verbürgen, sind vom Geiste einheitlicher Organisation getragen. Die Arbeiter desselben Betriebes sind dadurch unter gleichartige Bedingungen und Verhältnisse der Arbeit gestellt. Insbesondere sind sie alle den gleichen Gefahren für Leben, Gesundheit und Sittlichkeit, wenn auch in verschiedenem Grade ausgesetzt. Ihre schutzbedürftigen Interessen sind durch diesen Nivellierungsprozess kollektive geworden. Dadurch wird ein einheitlicher gesetzlicher Schutz der Persönlichkeit eines jeden Arbeiters gegen die Gefahren seines Betriebes zugleich notwendig und möglich.

Diese Gefahren selbst sind mannigfache und grosse und folgen teils aus der besonderen Natur des Betriebes, teils aus dem Missbrauch der Macht des Arbeitgebers. Die ersteren gehen von den Betriebseinrichtungen, Betriebsmitteln und der Betriebsweise aus, z. B. von den Maschinen, von giftigen Rohstoffen, von der starken Hitze in Eisengiessereien, Glashütten usw. Die letzteren fallen zumeist unter den privatwirtschaftlichen Gesichtspunkt der Bedeutung des Lohnes als eines Hauptteiles der Produktionskosten, an deren möglichster Niedrighaltung der Arbeitgeber um der Erzielung möglichst hohen Gewinnes willen interessiert ist. Hierher gehören z. B. die Ausbeutung der Arbeitskraft durch übermässig lange Arbeitszeit, die Ersparungen an hygienischen Vorkehrungen wie Ventilation oder Staubbindung, die Entlohnung in minderwertigen Sachgütern. Endlich gefährden den Arbeiter Massnahmen einseitiger Arbeitgeberpolitik, wie die Eintragung geheimer, sein Fortkommen erschwerender Kennzeichen in sein Arbeitszeugnis. Je schärfer zufolge der Entfesselung des freien Wettbewerbes als herrschenden Wirtschaftsprinzips die Konkurrenz unter den Unternehmern wurde, um so rücksichtsloser und raubbauartiger ward die Arbeitskraft der Lohnarbeiter und damit ihre Persönlichkeit, von der jene ein integrierender Teil ist, ausgebeutet. Begünstigt wurde diese Verschlechterung durch die Stellung der damals herrschenden klassischen Freihandelslehre zum Arbeitsverhältnis. Zwar nicht von A. Smith, wohl aber von seinen Nachfolgern ward der Mensch im Arbeiter allzusehr übersehen, dieser vielmehr nur als lebendige Arbeitsmaschine vom einseitigen Gesichtspunkte der Erzeugung möglichst vieler und wertvoller Güter gewürdigt. In deren Aufhäufung sah man den „Volksreichtum“ schlechthin ohne Verständnis für die entscheidende Frage: wie der Ertrag der nationalen Arbeit unter die Mitwirkenden in der für die Volksgesamtheit förderlichsten Weise verteilt wird.

Der zweite Grund war die allgemeine Erfahrungstatsache, dass gegen die Ausbeutung der Arbeitskraft, die dem Grossbetriebe wie sein Schatten in alle Länder und Gewerbe folgt, weder der einzelne Arbeiter noch auch der einzelne Arbeitgeber Abhilfe zu schaffen vermag, dass aber auch die Koalition schon deshalb hier versagt, weil sie immer nur Teile der Arbeiterschaft erfasst. So bleibt denn nur der Weg der Abhilfe durch die öffentliche Gewalt.

Die Folge der Hilflosigkeit der Arbeiter war eine fortgesetzte Verkümmerung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage bis zum Herabsinken in das tiefste wirtschaftliche und moralische Elend, von dem die Berichte über die amtlichen Untersuchungen zuerst in England, dem Ursprungslande der Grossindustrie, dann in den übrigen industrialisierten Ländern überaus traurige Bilder entrollten. Dort griff daher auch der gesetzliche Arbeiterschutz zuerst ein, wenn auch unter dem heftigen Widerstande der Arbeitgeber nur zaghaft und zögernd. Er hiess ursprünglich „Fabrikgesetzgebung“, weil die Zustände in den Fabriken am ehesten die öffentliche Aufmerksamkeit erregten und daher in Angriff genommen wurden. Das erste englische Schutzgesetz von 1802 regelte die Arbeitszeit und einige andere Verhältnisse der Spinnereilehrlinge, deren tägliche Höchstarbeitszeit es auf 12 Stunden (!) festsetzte. Von der weiteren Gesetzgebung wurden je nach voraufgegangenen Untersuchungen immer nur einerseits die des Schutzes besonders bedürftigen Arbeiterkreise (Kinder, Frauen, junge Leute), anderseits diejenigen Gewerbe, in denen die Übelstände besonders stark oder augenfällig waren, erfasst. Wirksam wurde sie aber erst seit der Einführung

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/25&oldid=- (Version vom 5.11.2021)