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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

traten dadurch in ein helles Licht. Nur in einer Beziehung, nämlich hinsichtlich der Finanzwirtschaft, wurde das Reichsland vollkommen den Bundesstaaten gleichgestellt, da man sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, dass das Reich die finanziellen Hilfskräfte Elsass-Lothringens zu seinem Vorteil ausbeute. Die Organisation des Reichs war aber nicht zur vollen Regierung eines Landes eingerichtet und genügend, sondern sie bedurfte einer Ergänzung durch Behörden, welche die dem Kaiser übertragene Staatsgewalt über Elsass-Lothringen zur Ausübung und Verwirklichung brachten. Der Organisation des Reichs musste eine Organisation der Landesverwaltung hinzugefügt werden durch Behörden, welche den in den Bundesstaaten bestehenden Behörden entsprachen. Das Reichsgesetz vom 23. Dezember 1871 regelte die Einrichtung der Verwaltung, zum Teil unter Anschluss an die bestehende (französische) Behördenorganisation. Während die Zuständigkeit des Reichs nach der Verfassung auf die Beaufsichtigung und Gesetzgebung über die im Art. 4 der R.V. aufgezählten Angelegenheiten und die Verwaltungsbefugnisse auf einzelne, wenig zahlreiche Ressorts beschränkt war, hatte das Reich in Elsass-Lothringen daneben die gesamte Zuständigkeit, welche nach der R.V. den Bundesstaaten geblieben war. Daraus ergab sich die Unterscheidung von Reichs- und Landesgesetzen, von Reichs- und Landesbehörden und Beamten, von Reichs- und Landesvermögen, von Reichs- und Landesschulden und wenngleich die Reichsregierung und die Reichslandsregierung im Kaiser und seinem Reichskanzler eine gemeinsame Spitze hatten, so waren sie doch tatsächlich von einander getrennt und praktisch namentlich durch die finanzielle Sonderwirtschaft des Reichslandes so scharf geschieden, dass die theoretische Identität von Reichsgewalt und Reichslandsgewalt ganz in den Hintergrund treten musste. Obwohl die Verwaltung des Reichslandes ein dem Kaiser und dem Reichskanzler unterstellter Zweig der Reichsverwaltung war, so hatte sie doch teils wegen der dem Oberpräsidenten delegierten umfassenden Befugnisse, teils wegen der von den Reichsfinanzen abgezweigten Landesfinanzwirtschaft das Gepräge einer der Reichsverwaltung gegenüber stehenden Staatsverwaltung. Die Verfassung von Elsass-Lothringen enthielt daher in sich selbst einen Gegensatz; das Grundprinzip war und blieb die Eigenschaft des Reichslandes, die volle und unbeschränkte Staatsgewalt des Reichs, welche das Reich durch den Frankfurter Frieden erworben und ungeschmälert behalten hat; die Konsequenzen dieses Grundprinzips aber waren abgeschwächt und umgebogen und die Einführung der R.V. selbst schien als das Ziel der Entwicklung die Umwandlung des Reichslandes in einen Bundesstaat in Aussicht zu stellen.

In dieser Richtung fielen die Wünsche der Bevölkerung und die Tendenzen der obersten Landesbehörde zusammen. Die Bevölkerung, d. h. diejenigen Personen, welche sich zu deren Führern aufgeworfen hatten und nicht durch gänzliche Fernhaltung von jeder politischen Teilnahme gegen die Zugehörigkeit zum Reich protestierten, verlangte „Autonomie“, d. h. die Regelung der Landesangelegenheiten durch besondere und unabhängige Organe, also Beseitigung der Zuständigkeit des Reichskanzlers, Bundesrats und Reichstags in Landesangelegenheiten, Errichtung eines Landesministeriums, welches einem Landtage verantwortlich und somit der Majorität desselben genehm und gehorsam ist und nach dessen Beschlüssen und Anträgen der Kaiser nach der Vorstellungsweise des Parlamentarismus die Staatsgewalt auszuüben hat. Die Erfüllung dieser Wünsche hätte die Folge gehabt, dass alle politisch wichtigen und einflussreichen Ämter im Lande, so weit möglich, mit Personen besetzt worden wären, welche bereits vor dem Kriege in Elsass-Lothringen ansässig waren oder von solchen abstammten, unter Ausschluss der aus den deutschen Bundesstaaten Eingewanderten. Man erfand dafür das Schlagwort „Elsass-Lothringen den Elsass-Lothringern.“ Es ist nicht nötig, die weiteren Folgen einer solchen Besetzung der massgebenden Ämter näher auszuführen.

Die obersten Landesbehörden standen solchen Wünschen zwar fern; aber sie fühlten sich durch die Abhängigkeit von den Reichsbehörden und vom Bundesrat und Reichstag beengt und in der Führung der Regierungsgeschäfte behindert. Die Zuständigkeit des Bundesrats schloss eine Einmischung des preussischen Staatsministeriums mittelbar in sich, da die Instruktion der preussischen Bundesratsbevollmächtigten von ihm beschlossen wurde. Die elsass-lothringische Regierung stand daher unter dem Druck der preussischen, z. B. in Schul- und Universitätsangelegenheiten und anderen Verwaltungszweigen, dessen Beseitigung ihr gewiss erwünscht gewesen wäre. An Meinungsverschiedenheiten und Reibungen zwischen dem Oberpräsidenten und dem Reichskanzler

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/220&oldid=- (Version vom 14.9.2022)