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wurden, doch nicht imstande sich genügend im freien Verkehre zurecht zu finden, um diese Fähigkeiten zur Grundlage eines ausreichenden Erwerbs zu machen. Sie gehen daher notwendig in die 3. Gruppe über; sie müssen dauernd bei der Verwertung ihrer Kräfte geleitet und beschützt werden. Die Erziehung kann an ihnen ihr Werk nicht bis zum Abschluss bringen; es bleibt der Fürsorge die Verwertung dieser wirtschaftlichen Kräfte als dauernde Aufgabe, die sich z. B. bei vielen Blindenanstalten in der Errichtung von Heimen für erwachsene Blinde, von Werkstätten für sie und dergleichen äussert, die zum Teil grosse wirtschaftliche Leistungen solcher Personen aufzuweisen haben, die ohne diese Hülfe verarmen und zum Gegenstand der unentgeltlichen Versorgung herabsinken müssten. Das wesentlichste Kennzeichen der älteren Richtung dürfte darin liegen, dass sie mehr oder weniger an den Glauben festhält, dass eine Unterstützung durch Arbeit nicht möglich sei, dass jedenfalls die Arbeit nur als Erziehungs-, richtiger als Zwangsmittel zu benutzen sei, um die Unterstützten zu veranlassen, wiederum sich auf eigene Füsse zu stellen und selbständig ihren Unterhalt zu verdienen. Eigentümlich ist ihr daneben die etwas anders gerichtete bald so bald so geformte Meinung, dass arbeitsfähige Personen auch bei jedem wirtschaftlichen System ihren Unterhalt selbst erwerben könnten, dass es da, wo sie dies nicht tun, nur gelte, die vorübergehenden Hindernisse, besonders Krankheiten und Böswilligkeit zu überwinden, um dem Zustand der Armut ein Ende zu bereiten.

Am stärksten ist diese Richtung erschüttert worden, durch die nähere Untersuchung der Landstreicher und Vagabunden, wie sie neuerdings besonders von ärztlicher Seite erfolgt ist. Wenn dort eine Fülle geistiger Gebrechen, vor allem verschiedene Grade schwerer und leichter Verblödung als Ursache der Verarmung bei oft gut erhaltener Arbeitsfähigkeit aufgedeckt wurden, so war dies nur eine bestimmte Gruppe minder erwerbsfähiger, verarmender Persönlichkeiten, zu denen bei wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Begriffsbestimmung weitere Kreise hinzukommen. So wird man als Hauptkennzeichen neuerer Anschauung alle jene Versuche hinstellen dürfen, diese Persönlichkeiten nicht nur zu versorgen, oder mit erfolglosem Zwang zur Rückkehr ins freie Wirtschaftsleben zu zwingen, sondern ihre Arbeitskräfte zu verwerten, sie unter irgend eine Art von Bevormundung zu stellen, die wenn auch freiwillig von den betreffenden ertragen, doch sie tatsächlich aus dem freien Wettbewerb unseres Wirtschaftssystems herausnimmt. Die Erfolglosigkeit der deutschen Korrektionsanstalten und Arbeiterkolonien nach jener Richtung, ihr bedeutender Erfolg in dieser Richtung sind vorzügliche Beispiele dieser Entwicklung. Die 3. Aufgabe der Fürsorge wäre danach zu bezeichnen, „Unterbringung und Verwertung der Persönlichkeiten, die im herrschenden Wirtschaftssystem nicht allein sich durchbringen können“. Die enge Beziehung dieser Versuche zum Wirtschaftsleben der Zeit, und die Wandelung des Kreises ihrer Schützlinge wie ihrer ganzen Einrichtungen mit dem Wirtschaftsleben dürften die wesentlichsten Stücke sein, die für ihre Beurteilung festzuhalten sind.

Die Versorgung unwirtschaftlicher Elemente, denen völlig die Fähigkeit abgeht, sich selbständig zu erhalten, ist das am meisten in sich geschlossene Gebiet der Fürsorge, das rein nach eigenen Grundsätzen verwaltet werden kann. Eine humane Versorgung, die mit dem geringsten Aufwande ihren Zweck erreicht, wird hier, wo die Fürsorge sich ganz im Gebiete der Einkommensverteilung hält, fast alle Massnahmen beherrschen. Einzig die Möglichkeit, die Notwendigkeit dieser Versorgung durch Ausdehnung der Selbstversicherung, stärkere Ausbildung des Beamtencharakters bei höheren Arbeitern einzuschränken, wird darüber hinaus in Betracht kommen. Die Erscheinung, dass die Rechtsform dieser Versorgung sich z. B. bei Zwangsversicherung ändern kann und so z. B. die Form des staatlichen Zuschusses bei der deutschen Alters- und Invalidenversicherung annimmt, ändert nichts an dem fürsorglichen Charakter dieses Teils der rechtlich geänderten Versorgung. Nicht die Art der Mittelbeschaffung, sondern die öffentliche Sicherung der Versorgung ist entscheidend für diesen Charakter.

Die Erziehung vorübergehend unwirtschaftlicher Elemente berührt sich fortwährend mit den verschiedenen politischen Gebieten. Sie kann nur in einer engen Fühlung mit der ganzen wirtschaftlichen Entwicklung fortschreiten, sie wird am meisten von gesellschaftlichen Änderungen aller Art mitbetroffen. Eine Fülle sogenannter sozialpolitischer Einrichtungen, die die Lebensbedingungen der Volksmasse heben wollen, tragen fürsorglichen Charakter an sich, indem sie einzelnen die fehlenden Stücke der Wirtschaftlichkeit ersetzen oder sie zu selbstständigem

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/208&oldid=- (Version vom 4.12.2021)